Erinnerungsfehler: Falsche Zahlen aus dem KZ
08.02.2007 | 12:38 | VON ROMAN SANDGRUBER (Die Presse)
Österreich selber sollte sehr sorgfältig mit Aussagen zum Holocaust umgeht und den Leugnern keinen Vorwand liefert, es würde mit falschen Daten operiert. Das geschah aber.
Das österreichische Verbotsgesetz stellt im § 3 die Leugnung des Holocaust unter Strafe. Ob es sinnvoll ist, einer verschwindend kleinen Minderheit von Unverbesserlichen so viel Aufmerksamkeit zu widmen, mag dahingestellt sein. Es gibt jedenfalls gute Gründe dafür. Der Umstand der strafrechtlichen Sanktionierung gebietet aber, dass Österreich selber sehr sorgfältig mit Aussagen zum Holocaust umgeht und den Leugnern nicht den geringsten Vorwand liefert, es würde irgendwo mit falschen Daten operiert.
Gerade das aber geschieht mit einer Broschüre des Innenministeriums: mit der in der Reihe der "Mauthausen-Erinnerungen" als 1. Band herausgebrachten Autobiografie von Clare Parker.
Die 1932 in Budapest als Klara Hochhauser geborene Clare Parker war gemeinsam mit ihrer Mutter Magda zunächst ins KZ Auschwitz deportiert und Ende Oktober 1944 mit insgesamt 577 jüdischen Frauen in das Mauthausener Frauen-Außenlager Lenzing/Pettighofen überstellt worden. Sie war 13 Jahre alt. In einem fensterlosen Waggon von Auschwitz nach Oberösterreich transportiert, wusste sie nicht, wo sie sich befand, und glaubte bis ins hohe Alter, als sie begann, ihre Erinnerungen niederzuschreiben, in Mauthausen gewesen zu sein.
Aus der Vorstellung heraus, Mauthausen erlebt und überlebt zu haben, konstruierte sie sich Erinnerungen, die mit der Realität ihrer Erfahrungen im Lager nur mehr bruchstückartig oder gar nicht übereinstimmen, vor allem, was die Todesraten in Lenzing/Pettighofen betrifft. "Es verging aber kein Tag, an dem nicht etliche Gefangene fehlten, wenn wir ins Lager zurückkehrten. Die Zahl der Gefangenen verringerte sich rapide", schreibt Clare Parker: "Mit jedem Mal waren wir deutlich weniger. Auch beim Zählappell wurden immer mehr Nummern ausgelassen [ . . . ] Schließlich waren wir nur noch so wenige, dass die Zählappelle eingestellt und nur mehr die aufgerufen wurden, die zur Arbeit gingen. Von den ursprünglich mehreren hundert Frauen waren noch ungefähr zwanzig übrig . . . "
Dass von den 577 Häftlingen in Lenzing/
Pettighofen nur etwa 20 überlebt hätten, widerspricht den tatsächlichen Gegebenheiten im Lager diametral. Tatsächlich gab es in Lenzing/Pettighofen zwar schreckliche Schikanen, aber nur neun Todesopfer, auch wenn diese durch nichts zu rechtfertigen sind. Aber es macht schon einen Unterschied, ob die Todesrate bei 577 Lagerinsassen mit mehr als 95% angegeben wird oder 1,6% betrug, wie durch alle dazu vorliegenden Forschungen bestätigt wird.
Clare Parker ist kein Vorwurf zu machen. Das sind die traumatisierten Erinnerungen eines damaligen Kindes. Bertrand Perz hat in einem anderen Fall, der ebenfalls Mauthausen betrifft, zu Recht die Frage gestellt: "Kann man von in der Kindheit traumatisierten Menschen erwarten, dass sie einen autobiografischen Text verfassen, in dem keine erheblichen Differenzen zwischen Erlebtem und Erzähltem zu finden sind?"
Nicht nur aus Gründen der historisch-wissenschaftlichen Korrektheit, sondern auch, um dem obskuren Häufchen der Holocaust-Leugner keine Angriffspunkte zu liefern und auch keine Schieflage zwischen amtlich und wissenschaftlich abgesegneten Erinnerungen, die grob von den Tatsachen abweichen, und gerichtlich verfolgten Leugnern herzustellen, gebietet sich für eine ministerielle Veröffentlichung ein allen Regeln der historischen Quellenkritik unterworfener Umgang mit den Texten, auch wenn man vorgibt, dass sie besonders für die Jugend bestimmt seien und daher nicht wissenschaftlich intendiert seien.
Dr. Roman Sandgruber ist Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Linz und korrespondierendes Mitglied der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
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