Eli Wiesel in Auschwitz

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ClaudiaRothenbach
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Eli Wiesel in Auschwitz

Postby ClaudiaRothenbach » 1 decade 7 years ago (Sun Feb 05, 2006 1:08 pm)

Wenn man die offensichtlichen Übertreibungen wegläßt und die offenbar nachträglich angepaßten Gedanken, dann erhält man einen hübschen Einblich in das Leben in einem Konzentrationslager:
- die Diktatur der Kapos
- das Lazarett
- Bombenangriffe
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Die Türe des Viehwagens ging auf und ein deutscher Offizier erschien in Begleitung eines ungarischen Leutnants, der seine Worte übersetzte:
„Von jetzt ab stehen Sie unter dem Kommando der deutschen Wehrmacht. Wer noch Gold, Silber, Uhren besitzt, soll sie jetzt abgeben. Wer später mit Wertsachen angetroffen wird, wird auf der Stelle erschossen. Zweitens: wer krank ist, kann im Lazarettwagen reisen. Das ist alles.“
Der ungarische Leutnant durchschritt unsere dichtgedrängte Gemeinschaft und sammelte den letzten Besitz derer ein, die den bitteren Geschmack des Schreckens nicht mehr auf der Zunge spüren wollten.
„Ihr seid achtzig Personen im Wagen“, fügte der deutsche Offizier hinzu. „Wenn einer fehlt, werdet ihr alle wie Hunde niedergeknallt.“
Die beiden verschwanden. Die Türen schlossen sich von neuem. Wir steckten bis zum Halse in der Falle. Die Türen wurden zugenagelt. Der Rückweg war endgültig abgeschnitten. Die Welt war ein hermetisch verriegelter Viehwagen.

Mit uns fuhr Frau Schächter, eine etwa fünfzigjährige Mutter mit ihrem zehnjährigen Sohn, der in seiner Ecke kauerte. Ihr Mann und zwei ältere Söhne waren versehentlich mit dem ersten Transport verfrachtet worden. Die Trennung hatte sie erschüttert.
Ich kannte sie gut. Sie war oft bei uns gewesen: ein friedliches Geschöpf mit glühendem, gespanntem Blick. Ihr Mann war ein frommer Mensch, der Tag und Nacht im Lehrhaus verbrachte, so daß sie den Lebensunterhalt der Ihren erarbeiten mußte.
Frau Schächter hatte den Verstand verloren. Am ersten Tag der Fahrt hatte sie zu stöhnen begonnen und fragte, warum man sie von den Ihren getrennt hatte. Später wurden ihre Klagerufe hysterisch.
In der dritten Nacht, während wir sitzend und stehend, aneinandergelehnt, schliefen, durchdrang ein schriller Schrei die Stille:
„Ein Feuer! Ich sehe ein Feuer! Ich sehe ein Feuer!“
Es entstand eine Panik. Wer hatte geschrien? Frau Schächter. Mitten im Waggon, im bleiernen Schimmer, der durch die Fenster fiel, glich sie einem verdorrten Baum in einem Kornfeld. Kreischend deutete sie auf das Fenster:
„Seht! Seht doch! Das Feuer! Ein schreckliches Feuer! Habt Mitleid mit mir, das Feuer!“
Männer preßten die Gesichter gegen die Stäbe. Es war nichts zu sehen, nur Nacht.
Lange lastete der Schock dieses schrecklichen Erwachens auf uns. Wir zitterten. Bei jedem Kreischen der Räder auf den Schienen schien es, als gähne ein Abgrund unter unseren Füßen. Unfähig, unsere Angst zu betäuben, suchten wir uns damit zu trösten, daß wir sagten: „Sie ist verrückt, die Arme.“ Um sie zu beruhigen, hatte man ihr ein feuchtes Tuch auf die Stirn gelegt. Trotzdem gellte sie weiter: „Das Feuer! Das Feuer!“
Ihr Bübchen weinte auch, klammerte sich an ihren Rock und suchte ihre Hände: „Es ist nichts, Mama! Es ist nichts ... Setz’ dich wieder hin ...“ Sein Stammeln tat mir weher als das Jammern seiner Mutter. Andere Frauen suchten sie zu beruhigen: „Sie werden Ihren Mann und Ihre Söhne wiedersehen. In wenigen Tagen ...“
Trotzdem schrie sie mit keuchender, von Schluchzen unterbrochener Stimme weiter: „Juden, hört mich an: Ich sehe ein Feuer! Flammen schlagen hoch! Ein furchtbarer Brand!“ Als sei eine verdammte Seele in sie geschlüpft und spreche aus der Tiefe ihres Wesens.
Um uns zu beruhigen, eher um selbst Atem zu schöpfen als um sie zu trösten, suchten wir uns einzureden: „Sie muß wahnsinnigen Durst haben, die Ärmste! Deshalb spricht sie immer von dem Feuer, das sie verzehrt ...“
Es war alles vergebens. Unser Schrecken schien die Wände des Wagens sprengen zu wollen. Unsere Nerven waren bis zum Zerspringen gespannt. Unsere Haut schmerzte. Es war, als griffe der Wahnsinn auch uns an die Kehle. Man hielt es nicht länger aus. Einige junge Leute zwangen sie auf den Boden nieder, fesselten sie und steckten ihr einen Knebel in den Mund.
Von neuem trat Stille ein. Der Kleine saß neben seiner Mutter und weinte. Mein Atem ging wieder ruhig. Die Räder schlugen auf den Schienen den eintönigen Takt der Reise durch die Nacht. Man konnte wieder einschlummern, dahindämmern, träumen...
So vergingen ein oder zwei Stunden. Ein neuer Schrei verschlug uns den Atem. Frau Schächter hatte sich losgemacht und kreischte lauter als vorher:
„Schaut das Feuer! Flammen, Flammen überall!“
Wieder banden und knebelten die jungen Leute die Unglückliche; ermutigt von den anderen, versetzten sie ihr sogar ein paar Püffe.
„Sie soll endlich den Mund halten, die Wahnsinnige! Sie ist nicht allein im Wagen!“
Man schlug sie auf den Kopf, hart, unerbittlich. Ihr kleiner Junge klammerte sich an sie, ohne einen Ton von sich zu geben. Er weinte nicht einmal mehr.
Die Nacht schien nicht enden zu wollen. Gegen Morgen beruhigte sich Frau Schächter. In ihrer Ecke kauernd, den dumpfen Blick ins Leere gerichtet, sah sie uns nicht mehr.
So verharrte sie den ganzen Tag, stumm, abwesend, eine Fremde unter uns allen. Beim Einbruch der Nacht schrie sie von neuem: „Der Brand, dort!“ Und sie deutete auf einen Punkt im Raum, auf ein und denselben. Man hatte keine Lust mehr, sie zu schlagen. Die Hitze, der Durst, der Pesthauch, der Mangel an frischer Luft erstickte uns, aber all das war nichts im Vergleich zu den Schreien, die uns innerlich zerrissen. Noch wenige Tage, und wir hätten allesamt zu schreien begonnen.
Der Zug lief jedoch in einen Bahnhof ein. Wer am Fenster stand, rief den Namen der Station in den Wagen hinein:
„Auschwitz!“
Niemand hatte den Namen jemals gehört.
Der Zug fuhr nicht weiter. Langsam schlich der Nachmittag. Dann wurden die Türen aufgeschoben. Zwei Insassen durften aussteigen, um Wasser zu holen.
Als sie zurückkehrten, erzählten sie, was sie im Austausch gegen eine goldene Uhr erfahren hatten. Auschwitz war die Endstation. Hier würde alles ausgeladen werden. Hier lag ein Arbeitslager. Gute Behandlung. Die Familien würden nicht getrennt. Nur die Jungen müßten in den Fabriken arbeiten. Die Greise und Kranken würden zur Feldarbeit eingesetzt.
Das Stimmungsbarometer stieg sprunghaft. Blitzartig fühlten wir uns von allen Schrecken der vergangenen Nächte befreit. Man dankte Gott.
Frau Schächter blieb in ihrem Winkel hocken, zusammengesunken, stumm, gleichgültig gegen die allgemeine Hoffnungsfreudigkeit. Ihr Bübchen streichelte ihre Hand. Langsam kroch die Dämmerung in den Wagen. Wir schickten uns an, unseren letzten Proviant zu verzehren. Gegen zehn Uhr abends suchte jeder eine günstige Stellung, um ein wenig zu schlummern, und bald schliefen alle Wageninsassen. Plötzlich ertönte der Schrei: „Das Feuer! Es brennt! Seht, dort!“
Aus dem Schlaf aufgeschreckt, stürzten wir zum Fenster. Wieder hatten wir es geglaubt, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Aber draußen war nichts als Nacht. Tief beschämt nahmen wir wieder unsere Schlafstellung ein und waren trotzdem von Angst zerfressen. Da sie aber weiterschrie, schlugen wir von neuem auf sie ein und vermochten sie nur mit großer Mühe zum Schweigen zu bringen.
Der Wagenälteste rief einen deutschen Offizier, der auf dem Bahnsteig auf und ab ging, und bat ihn, man möge unsere Kranke in den Lazarettwagen überführen. „Geduld“, antwortete dieser, „Geduld. Man wird sie bald hinbringen.“
Gegen elf Uhr setzte sich der Zug in Bewegung. Man drängte zu den Fenstern. Langsam fuhr man weiter. Eine Viertelstunde später hielt man wieder. Durch die Fenster sah man Stacheldraht. Das mußte das Lager sein.
Wir hatten Frau Schächter ganz vergessen. Plötzlich hörten wir furchtbares Schreien:
„Juden, seht! Seht das Feuer! Die Flammen, seht nur!“
Der Zug hielt an, und dieschal sahen wir Flammen, die in der tiefen Nacht aus einem hohen Schornstein schlugen.
Frau Schächter war von selbst verstummt. Schweigend, teilnahmslos, abwesend saß sie wieder in ihrem Eckchen. Wir blickten auf die Flammen in der Nacht. Ein widerwärtiger Geruch lag in der Luft. Plötzlich öffneten sich die Türen. Seltsame, mit gestreiften Jacken und schwarzen Hosen bekleidete Gestalten, eine Stablampe in der einen, einen Knüppel in der anderen Hand, sprangen in den Wagen und riefen, nach links und rechts Hiebe austeilend:
„Alles aussteigen! Alles im Wagen lassen! Wird’s bald!“
Wir sprangen auf den Bahnsteig hinunter. Ich warf einen letzten Blick auf Frau Schächter. Ihr kleiner Junge hielt ihre Hand.
Vor uns Flammen. In der Luft der Geruch von verbranntem Fleisch. Es mußte Mitternacht sein. Wir waren da. In Birkenau.
Die alten liebgewonnenen Gegenstände, die wir bis hierher mitgeschleift hatten, blieben im Wagen zurück und damit unsere Illusionen.
Alle zwei Meter stand ein SS-Mann und hielt seine Maschinenpistole drohend auf uns gerichtet. Hand in Hand folgten wir den anderen.
Ein SS-Unteroffizier, einen Gummiknüppel in der Hand, kam auf uns zu und befahl:
„Männer links raus! Frauen rechts raus!“
Vier Worte, ruhig und gleichgültig gesprochen, unbewegt. Vier schlichte, kurze Worte. Für mich zwar der Augenblick, in dem ich meine Mutter verlassen mußte. Ich fand keine Zeit, nachzudenken, als ich schon den Druck der Hand meines Vaters fühlte: wir waren allein, getrennt. Den Bruchteil einer Sekunde lang konnte ich meine Mutter und meine Schwestern nach rechts heraustreten sehen. Tsipora hielt Mamas Hand. Ich sah, wie sie sich entfernten. Meine Mutter streichelte die blonden Haare meiner Schwester, wie um sie zu beschützen. Ich ging mit meinem Vater, mit den Männern weiter. Ich wußte nicht, daß ich an dieser Stelle, in diesem Augenblick, Mutter und Tsipora für immer verließ. Ich ging weiter. Mein Vater hielt meine Hand.
Hinter mir brach ein Greis zusammen. Neben ihm steckte ein SS-Mann seine Pistole wieder ein. Meine Hand verkrampfte sich in den Arm meines Vaters. Nur ein Gedanke: ihn nicht verlieren. Nicht allein bleiben.
Die SS-Offiziere befahlen:
„In Fünferreihen antreten!“
Ein Durcheinander entstand. Es galt, unbedingt zusammen zu bleiben.
„Heda, Kleiner, wie alt bist du?“
Der Fragesteller war ein Gefangener. Im sah sein Gesicht nicht, aber seine Stimme klang müde und warm.
„Noch keine fünfzehn.“
„Nein. Achtzehn.“
„Nein“, erwiderte ich. „Fünfzehn.“
„Dummkopf. Hör, was im dir sage.“
Dann fragte er meinen Vater nach seinem Alter, der antwortete:
“Fünfzig.”
Noch wütender geworden, sagte der andere:
„Nein, nicht fünfzig. Vierzig. Verstehen Sie? Achtzehn und Vierzig.“
Er verschwand in der Nacht. Ein anderer erschien fluchend:
„Hundesöhne, warum seid ihr gekommen? Sprecht, warum, warum?“
Jemand wagte zu antworten:
„Was meinen Sie wohl? Etwa zum Vergnügen? Glauben Sie, wir hätten darum gebeten?“
Fast hätte der andere ihn niedergeschlagen:
„Halt’s Maul, Schweinehund, oder ich hau’ dich zusammen. Ihr hättet euch lieber aufhängen sollen, wo ihr wart, statt hierher zu kommen. Habt ihr nicht gewußt, was in Auschwitz gespielt wird? Ihr hattet keine Ahnung? Und das im Jahre 1944?“
Wir wußten es nicht. Niemand hatte uns ein Wort gesagt. Er traute seinen Ohren nicht. Sein Ton wurde immer brutaler.
„Seht ihr den Schornstein dort? Seht ihr ihn? Und die Flammen, seht ihr sie? (Wir sahen sie, die Flammen.) Dorthin wird man euch führen. Dort wartet euer Grab auf euch. Habt ihr's noch nicht begriffen? Hundesöhne, kapiert ihr denn gar nichts? Man wird euch verbrennen. Euch verkalken, euch einäschern!“
Seine Wut wurde hysterisch. Wir standen reglos, wie versteinert. War das nicht ein Alptraum? Ein unvorstellbarer Alptraum?
Da und dort hörte ich murmeln:
„Es muß etwas unternommen werden. Wir dürfen uns nicht morden, uns nicht wie Vieh zum Schlachthof führen lassen. Wir müssen uns wehren.“
Es befanden sich einige handfeste Burschen unter uns, die Dolche bei sich hatten und ihre Gefährten aufforderten, sich auf die bewaffneten Wächter zu stürzen. Ein junger Mann sagte:
„Die Welt muß wissen, was Auschwitz bedeutet. Alle, die noch rechtzeitig fliehen können, sollen es erfahren...“
Aber die Älteren flehten ihre Söhne an, keine Dummheiten zu machen:
„Wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren, selbst wenn das Damoklesschwert über uns schwebt.“ So sprachen unsere Weisen.
Die Welle der Empörung verebbte. Wir marschierten bis zu einer Wegkreuzung weiter. Dort stand Herr Dr. Mengele, jener berühmte Dr. Mengele - ein typischer SS-Offizier, grausame Gesichtszüge, aber nicht ohne Klugheit, Monokel im Auge, einen Taktstock in der Hand - im Kreise anderer Offiziere. Das Stöckchen bewegte sich ohne Unterlaß, bald nach rechts, bald nach links.
Schon stand ich vor ihm:
„Dein Alter?“ fragte er mit einem Ton, der wahrscheinlich väterlich klingen sollte.
„Achtzehn Jahre.“ Meine Stimme zitterte.
„Gesund?“
„Ja.“
„Beruf?“
Sollte ich sagen, ich sei Student?
„Landarbeiter,“ hörte ich mich sagen.
Die Unterhaltung dauerte kaum einige Sekunden. Sie schien mir eine Ewigkeit zu währen.
Das Stöckchen sprang nach links. Ich machte einen halben Schritt vorwärts. Ich wollte zunächst sehen, wohin man meinen Vater führen würde. Ginge er nach rechts, würde ich ihn einholen können.
Wieder neigte sich das Stöckchen nach links. Mir fiel ein Stein vom Herzen.
Wir wußten noch nicht, welches die gute Richtung war, die nach links oder die nach rechts, welcher Weg ins Zuchthaus und welcher ins Vernichtungslager führte. Trotzdem war ich glücklich, ich war ja bei meinem Vater. Langsam schob sich unsere Kolonne weiter. Ein anderer Gefangener trat auf uns zu:
„Zufrieden?“
„Ja“, antwortete einer.
„Ihr Armen, ihr geht in die Gaskammer.“
Er schien die Wahrheit zu sagen. Nicht weit von uns entfernt loderten Flammen aus einem Graben empor, riesige Flammen. Dort wurde etwas verbrannt. Ein Lastwagen näherte sich dem Erdloch und schüttete seine Ladung aus: es waren kleine Kinder. Säuglinge! Ich hatte sie mit eigenen Augen gesehen... Kinder in den Flammen. (Ist es verwunderlich, wenn mich seither der Schlaf flieht?)
Nun waren wir da, etwas weiter weg würde ein breiterer Graben für die Erwachsenen ausgeschachtet sein. Ich kniff mir ins Gesicht: lebte im noch? Wachte ich oder träumte ich? Ich konnte es gar nicht glauben. Wie war es möglich, daß Menschen und Kinder verbrannt wurden, und die Welt dazu schwieg? Nein, all das konnte nicht wahr sein. Ein Alptraum... Gleich würde ich aus dem Schlaf auffahren und mich klopfenden Herzens in meinem Kinderzimmer, mit meinen Büchern wiederfinden...
Die Stimme meines Vaters entriß mich meinen Gedanken:
„Schade... Schade, daß du nicht mit deiner Mutter gegangen bist... Ich habe viele Jungens deines Alters mit ihrer Mutter fortgehen sehen...“
Seine Stimme war furchtbar traurig. Ich begriff, daß er nicht sehen wollte, was man mir antun würde. Er wollte nicht seinen einzigen Sohn brennen sehen. Kalter Schweiß bedeckte meine Stirn. Ich sagte ihm jedoch, daß ich nicht daran glaubte, daß man in unserer Zeit Menschen verbrennen könne, daß die Menschheit es nie zulassen würde...
„Die Menschheit? Die Menschheit interessiert sich nicht für uns. Heute ist alles erlaubt. Alles ist möglich, sogar die Gaskammern...“ Seine Stimme versagte. „Vater“, sagte ich, „wenn das so ist, will im nicht länger warten. Ich renne in den elektrisch geladenen Stacheldraht. Das ist noch besser, als stundenlang in den Flammen zu leiden.“
Er antwortete nicht. Er weinte. Sein Körper war vom Schluchzen geschüttelt. Ringsum weinten alle. Jemand begann, Kaddisch, das Totengebet aufzusagen. Ich weiß nicht, ob es in der langen Geschichte des jüdischen Volkes einmal vorgekommen ist, daß Menschen das Totengebet für sich selbst sprachen.
„Jisgadal wejiskadasch schme raba... Sein Name sei erhöht und geheiligt...“, murmelte mein Vater. Zum erstenmal fühlte ich Aufruhr in mir aufwallen. Warum sollte ich Seinen Namen heiligen? Der Ewige, der König der Welt, der allmächtige und furchtbare Ewige schwieg, wofür sollte ich Ihm danken?
Wir marschierten weiter. Allmählich näherten wir uns dem Graben, dem eine Gluthitze entstieg. Noch zwanzig Schritt. Wenn ich mir den Tod geben wollte, war der Augenblick gekommen. Unsere Kolonne brauchte nur noch zwanzig Schritt zurückzulegen. Ich biß mir auf die Lippen, damit mein Vater nicht meinen zitternden Unterkiefer sah. Noch zehn Schritte, noch acht. Sieben. Wir marschierten langsam, wie hinter dem Leichenwagen unseres eigenen Begräbnisses einher. Nur noch vier, dann drei Schritte. Nun standen wir vor dem lodernden Graben. Ich riß meine letzten Kräfte zusammen, um aus der Reihe zu setzen und mich in den Stacheldraht zu werfen. Tief im Herzen nahm ich Abschied von meinem Vater, von der ganzen Welt, und unwillkürlich bildeten sich Worte auf meinen Lippen: „Jisgadal wejiskadasch schme raba... Sein Name sei erhöht und geheiligt...“
Mein Herz wollte zerspringen. Nun gut. Ich stand vor dem Todesengel...
Nein. Zwei Schritte vor dem Graben befahl man uns, links abzuschwenken und in eine Baracke zu treten. Ich drückte die Hand meines Vaters. „Erinnerst du dich an Frau Schächter im Zug?“ fragte er. Nie werde im diese Nacht vergessen, die erste Nacht im Lager, die aus meinem Leben eine siebenmal verriegelte lange Nacht gemacht hat. Nie werde im diesen Raum vergessen.
Nie werde ich die kleinen Gesichter der Kinder vergessen, deren Körper vor meinen Augen als Spiralen zum blauen Himmel aufstiegen.
Nie werde im die Flammen vergessen, die meinen Glauben für immer verzehrten.
Nie werde im das nächtliche Schweigen vergessen, das mich in alle Ewigkeit um die Lust am leben gebracht hat. Nie werde im die Augenblicke vergessen, die meinen Gott und meine Seele mordeten, und meine Träume, die das Antlitz der Wüste annahmen.
Nie werde im das vergessen, und wenn ich dazu verurteilt wäre, so lange wie Gott zu leben. Nie. Man pferchte uns in eine langgestreckte Baracke. Am Dach waren einige blaugefärbte Luken angebracht. So muß die Vorhölle aussehen. So viele angstgepeinigte Menschen, so viele Schreie, soviel bestialische Grausamkeit.
Zahllose Inhaftierte empfingen uns mit geschwungenem Prügel und hieben grundlos nach allen Seiten, auf irgend etwas, auf irgend jemanden ein. Befehle wie „Ausziehen! Wird's bald! Raus!“ ertönten. „Behaltet nur den Gürtel und die Schuhe in der Hand...“
Man mußte seine Kleider auf einen im hinteren Teil der Baracke aufgetürmten Haufen werfen. Da lagen die neuen und alten Anzüge, zerschlissene Mäntel, Fetzen. Für uns war es die wahre Gleichheit: die der Nacktheit. Zitternd vor Kälte.
Einige SS-Offiziere schritten auf der Suche nach kräftigen Männern den Raum ab. Wenn Körperkraft geschätzt war, empfahl es sich vielleicht, als robust angesehen zu werden. Mein Vater dachte anders: es sei besser, nicht aufzufallen. Das Schicksal der anderen würde auch unseres werden. (Später sollten wir erfahren, daß er recht behalten hatte. Die an diesem Tag ausgewählten Männer wurden dem Sonderkommando zugeteilt, jenem Kommando, das in den Gaskammern arbeitete. Bela Katz - der Sohn eines Großkaufmanns meiner Vaterstadt - war eine Woche vor uns in Birkenau angekommen - mit dem ersten Transport. Als er von unserer Ankunft erfuhr, ließ er uns sagen, daß er wegen seiner Körperkraft dem Sonderkommando zugeteilt und dadurch gezwungen worden sei, seinen eigenen Vater in die Gaskammer zu schieben.) Weiter hagelten die Hiebe:
„Zum Friseur.“
Gürtel und Schuhe in der Hand ließ ich mich zu den Friseuren treiben. Ihre Haarschneidemaschinen rissen das Haar aus und rasierten den ganzen Körper kahl. In meinem Kopf hämmerte nur ein Gedanke: mich nur nicht von meinem Vater entfernen.
Den Händen der Haarschneider entronnen, wanderten wir durch die Menschenmenge und trafen Bekannte, Freunde. Diese Begegnungen erfüllten uns mit Freude - ja, mit Freude: „Gott sei gelobt! Du lebst noch...!“
Andere wiederum weinten. Sie nutzten die ihnen verbleibende Kraft, um zu weinen. Warum hatten sie sich hierher bringen lassen? Warum waren sie nicht im Bett gestorben? klagten sie mit schluchzender Stimme.
Plötzlich umschlang jemand meinen Hals: Jaschiel, der Bruder des Rabbiners von Sighet. Er weinte herzzerreißend. Ich meinte, er weine aus Freude, noch am Leben zu sein.
„Weine nicht, Jaschiel“, bat ich. „Es ist schade um die Tränen...“
„Ich soll nicht weinen? Wir stehen auf der Schwelle des Todes. Bald werden wir drin sein... Verstehst du? Drinnen! Wie sollte ich da nicht weinen?“
Durch die bläulichen Dachluken sah im langsam die Nacht sinken. Im hatte keine Angst mehr. Dann befiel mich unmenschliche Müdigkeit.
Die Zurückgebliebenen streiften wir kaum noch mit unseren Gedanken. Man sprach noch von ihnen - “wer weiß, was aus ihnen geworden ist?“ -, aber man sorgte sich nicht mehr um ihr Schicksal. Man war unfähig, noch an irgend etwas zu denken. Die Sinne waren abgestumpft, alles versank in Nebel. Man klammerte sich an nichts mehr. Der Selbsterhaltungs- und Selbstverteidigungstrieb, die Eigenliebe - alles war verschwunden. In einem letzten Augenblick der Hellsicht schien es mir, als seien wir im Nichts umherirrende verfluchte Seelen, dazu verurteilt, bis zum Ende aller Tage Räume des Alls zu durchwandern, auf der Suche nach Erlösung, auf der Suche nach Vergessen, ohne Hoffnung, es zu finden. Gegen fünf Uhr morgens stieß man uns aus der Baracke. Kapos schlugen uns von neuem, aber ich spürte die Schläge nicht mehr. Eisiger Wind empfing uns. Wir waren nackt und hatten Schuhe und Gürtel in der Hand. „Laufschritt!“ hieß es. Wir liefen. Nach einigen Minuten Dauerlauf erreichten wir eine neue Baracke.
Vor der Tür stand ein Faß mit Petroleum. Desinfektion. Jeder wird hineingetaucht. Hinterher eine heiße Dusche. In aller Geschwindigkeit. Gleich darauf wird man hinausgejagt. Wieder laufen. Wieder eine Baracke: das Lagerhaus. Lange Tische. Stapel Sträflingskleidung. Im Vorbeilaufen wirft man uns Hose, Jacke, Hemd und Stiefel zu.
In wenigen Sekunden hatten wir aufgehört, Menschen zu sein. Wäre die Situation nicht so tragisch gewesen, wir hätten vor Lachen herausplatzen müssen. Was für ein Aufzug! Meir Katz, ein Hüne von einem Menschen, hatte eine Kinderhose bekommen; Stern, ein mageres Männchen, eine Jacke, in der er ertrank. Rasch nahmen wir den nötigen Austausch vor.
Ich blickte mich nach meinem Vater um. Wie verändert er aussah! Sein Blick war düster. Ich wollte ihm etwas sagen, aber ich wußte nicht, was.
Die Nacht war vorüber. Der Morgenstern glitzerte am Himmel. Auch ich war ein völlig anderer Mensch geworden. Der Talmud-Schüler, das Kind, das ich einst gewesen, war in den Flammen untergegangen, und es blieb nur noch eine Hülle übrig, die mir ähnelte. Eine schwarze Flamme hatte meine Seele durchzüngelt und sie verzehrt.
So vieles hatte sich in wenigen Stunden ereignet, daß ich das Zeitgefühl vollständig verloren hatte. Wann hatten wir unser Haus verlassen? Und das Ghetto? Und den Zug? Vor einer Woche? Oder erst vor einer Nacht, einer einzigen Nacht?
Wie lange standen wir schon in dem eisigen Wind? Eine Stunde? Eine einzige Stunde von sechzig Minuten? Es mußte ein Traum sein.
Nicht weit von uns entfernt arbeiteten Häftlinge. Die einen schachteten Löcher aus, andere schleppten Sand. Keiner von ihnen warf uns einen Blick zu. Wir kamen uns vor wie Bäume, die im Herzen einer Einöde verdorrt waren. Hinter mir hörte ich sprechen. Ich hatte keine Lust, zu hören, was gesagt wurde und wer sprach. Niemand wagte die Stimme zu erheben, obgleich kein Aufseher in der Nähe stand. Man flüsterte. Vielleicht geschah es wegen des dichten Rauches, der die Luft vergiftete und in die Kehle drang...
Man trieb uns in eine neue Baracke im Zigeunerlager. In Fünferreihen.
„Daß sich keiner muckst!“
Fußboden gab es keinen, nur ein Dach und vier Wände. Die Füße versanken im Dreck.
Wieder begann das Warten. Stehend schlief ich ein. Ich träumte von einem Bett, von mütterlicher Liebkosung. Ich erwachte und stand, die Füße im Schlamm. Andere brachen zusammen und schliefen liegend ein. Wieder andere schrien:
„Seid ihr verrückt geworden? Es hat geheißen: stehen bleiben. Wollt ihr uns ins Verderben schicken?“
Als ob nicht alles Verderben der Welt bereits auf uns lastete. Einer nach dem anderen kauerten wir uns in den Kot. Aber jeden Augenblick mußte man aufstehen, jedes Mal, wenn ein Kapo eintrat, um nachzusehen, ob nicht jemand ein Paar neue Stiefel anhabe, die er dann zurückforderte. Widerstand war sinnlos: die Hiebe hagelten und zum Schluß verlor man ohnehin seine Stiefel.
Ich selbst hatte neue Stiefel. Da sie aber von einer dicken Kotschicht überzogen waren, war es unbeachtet geblieben. So dankte ich Gott in einer Gelegenheitslobpreisung, daß er den Kot in seinem unendlichen herrlichen Weltall geschaffen hatte.
Plötzliches Schweigen. Ein SS-Offizier trat ein und mit ihm der Hauch des Todesengels. Unsere Blicke hefteten sich an seine fleischigen Lippen. Er pflanzte sich mitten in der Baracke auf und bellte:
„Ihr befindet euch in einem Konzentrationslager. In Auschwitz...“ Dann brach er ab, um den Eindruck seiner Worte in unseren Mienen zu beobachten. Sein Gesicht ist mir bis zum heutigen Tag im Gedächtnis geblieben. Ein hochgewachsener Mann in den Dreißigern, in dessen Stirn und Augen das Verbrechen geschrieben stand. Er musterte uns wie ein Rudel räudiger Hunde, die sich ans leben klammern.
„Denkt immer daran“, fuhr er fort. „Denkt daran und prägt es euch ein. Ihr seid in Auschwitz. Und Auschwitz ist kein Erholungsheim, sondern ein Konzentrationslager. Hier wird gearbeitet. Sonst geht ihr in den Schornstein. In die Gaskammer. Arbeiten oder Gaskammer - ihr habt die Wahl!“
Wir hatten diese Nacht überlebt und glaubten daher, daß uns nichts mehr schrecken könne. Aber seine dürren Worte ließen uns erschauern. Das Wort „Schornstein“ war kein leerer Wahn: er schwebte rauchumwölkt in der Luft. Vielleicht war das das einzige Wort, das hier Sinn hatte. Der Mann verließ die Baracke. Dann erschienen die Kapos und brüllten:
„Alle Fachleute - Schlosser, Schreiner, Elektriker, Uhrmacher - einen Schritt vor!“
Die anderen wurden in eine zweite, diesmal aus Stein gebaute Baracke geführt, wo sie sich unter der Aufsicht eines Zigeunerhäftlings setzen durften.
Mein Vater bekam plötzlich eine Kolik. Er stand auf, ging auf den Zigeuner zu und fragte ihn in höflichem Deutsch:
„Verzeihen Sie. Können Sie mir sagen, wo hier die Toilette ist?“
Der Zigeuner musterte ihn lange von Kopf bis Fuß, als wolle er sich davon überzeugen, daß der Mensch, der ihn ansprach, ein Wesen aus Fleisch und Blut, ein lebendiges Geschöpf mit einem Leib und einem Bauch sei. Dann, wie plötzlich aus einem jähen Traum erwacht, versetzte er meinem Vater eine derartige Ohrfeige, daß dieser lang hinschlug und auf allen vieren wieder an seinen Platz kroch.
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Was war geschehen? Man hatte meinen Vater vor meinen eigenen Augen geschlagen, und ich hatte nicht mit der Wimper gezuckt. Ich hatte zugesehen und keinen Ton gesagt. Noch gestern hätte im meine Nägel in das Fleisch dieses Halunken gegraben. Hatte ich mich so verändert? Und so rasch? Nun begann mich die Reue zu plagen. Im dachte nur: dies werde im ihnen nie verzeihen. Mein Vater erriet meine Gedanken und flüsterte mir ins Ohr: „Es tut nicht weh.“ Seine Wange war hochrot von dem Hieb.
„Alles raustreten!“
Etwa zehn Zigeuner gesellten sich zu unserem Wächter. Knüppel und Peitschen schlugen nach allen Seiten aus. Meine Füße liefen ohne mein Zutun. Ich suchte hinter dem Rücken der anderen Schutz. Draußen schien die Frühlingssonne.
„In Fünferreihen antreten!“
Die Gefangenen, die im am Morgen gesehen hatte, arbeiteten neben uns, ohne Aufseher, nur vom Schatten des Schornsteins bewacht. Von der Sonne und von meinen Träumen betäubt, fühlte ich, daß jemand mich am Ärmel zupfte. „Komm, mein Junge“, sagte mein Vater.
Wir marschierten, Türen gingen auf und schlossen sich. Wir marschierten zwischen elektrischem Stacheldraht. Auf Sch ritt und Tritt ein weißes Schild mit einem schwarzen Totenkopf, der uns anstarrte. Eine Inschrift: „ Vorsicht! Lebensgefahr!“ Lächerlich: gab es ein einziges Fleckchen, das nicht lebensgefährlich war?
Die Zigeuner blieben vor einer Baracke stehen und wurden von SS-Männern abgelöst, die uns umstellten. Pistolen, Maschinenpistolen, Polizeihunde. Der Marsch hatte eine halbe Stunde gedauert. Ich stellte fest, daß der Stacheldraht und damit das Lager hinter uns lagen. Wir waren im Freien. Es war ein schöner Apriltag. Frühlingsduft hing in der Luft. Die Sonne sank im Westen.
Aber kaum waren wir einige Schritte marschiert, als wir den Drahtverhau eines neuen Lagers erblickten. Außerdem eine eiserne Tür mit der Aufschrift: „Arbeit ist Freiheit!“
Auschwitz.
Der erste Eindruck: besser als Birkenau. Statt Holzbaracken zweistöckige Betongebäude. Da und dort kleine Gartenanlagen. Man führte uns zu einem dieser „Blocks“. Vor der Tür hieß es wieder: Warten. Wir kauerten uns auf den Erdboden. Von Zeit zu Zeit wurde einer hineingeführt. Es war die Dusche, eine Zwangsformalität beim Betreten irgendeines Lagers. Mochte man auch mehrmals von einem Lager zum anderen gehen, stets führte der Weg durch die Dusche.
Aus dem heißen Wasser kommend, schlotterten wir in der Nacht. Die Kleider hatten wir im Block zurücklassen müssen, wo man uns neue versprochen hatte. Gegen Mitternacht hieß es plötzlich: laufen. „Rascher“, brüllten unsere Wächter. „Je rascher ihr lauft, desto früher könnt ihr schlafen.“
Nach einigen Minuten wilden Rennens gelangten wir zu einem neuen Block, wo uns der Blockälteste, ein junger Pole, lächelnd erwartete. Er begann zu sprechen, und trotz unserer Müdigkeit hörten wir geduldig zu:
„Kameraden, ihr befindet euch im Konzentrationslager Auschwitz. Ein langer Leidensweg steht euch bevor. Laßt den Mut nicht sinken. Ihr seid bereits der größten Gefahr entronnen: der Auswahl. Sammelt alle Kraft und verliert nicht die Hoffnung. Wir werden alle den Tag der Befreiung erleben. Habt Vertrauen ins Leben, tausendmal Vertrauen. Verscheucht die Verzweiflung, damit verjagt ihr auch den Tod. Die Hölle dauert nicht ewig. Und nun eine Bitte, vielleicht eher einen Rat: Laßt Kameradschaft unter euch herrschen. Wir alle sind Brüder und haben das gleiche Los zu ertragen. Über uns schwebt derselbe Raum. Helft euch untereinander. Das ist das einzige Mittel, um zu überleben. Nun ist's genug, ihr seid müde. Hört zu: ihr seid im Block 17 untergebracht, ich bin für die Ordnung verantwortlich, jeder kann mit einer Beanstandung zu mir kommen. Das ist alles. Nun geht schlafen. Immer zwei in einem Bett. Gute Nacht!“
Die ersten menschlichen Worte. Kaum waren wir auf unsere Matratzenlager gekrochen, als schwerer Schlaf uns überfiel. Am nächsten Morgen behandelten uns „die Alten“ ohne Brutalität. Wir gingen zum Waschraum. Man verteilte neue Kleider unter uns und schenkte schwarzen Kaffee aus.
Gegen zehn Uhr verließen wir den Block, damit sauber gemacht werden konnte. Draußen wärmte uns die Sonne. Unsere Stimmung hatte sich gehoben. Wir fühlten die wohltuende Nachtruhe. Freunde trafen sich, man wechselte ein paar Worte. Man sprach von allem möglichen, nur nicht von denen, die verschwunden waren. Die allgemeine Auffassung lautete: der Krieg kann nicht mehr lange dauern.
Gegen Mittag brachte man uns Suppe, einen Teller dicke Suppe für jeden. Wiewohl von Hunger geplagt, rührte ich sie nicht an. Ich war noch immer das verwöhnte Kind von zu Hause. Mein Vater schlang meine Ration mit hinunter.
Im Schatten des Blocks legten wir uns zu einem Schlummerstündchen nieder. Der SS-Offizier der schmutzigen Baracke mußte gelogen haben: Auschwitz war wirklich ein Erholungsheim.
Nachmittags ließ man uns antreten. Drei Häftlinge trugen einen Tisch und ärztliche Instrumente herbei. Mit freigemachtem linkem Arm mußten wir am Tisch vorbeigehen. Die drei „Alten“, Nadeln in der Hand, ritzten uns eine Nummer in den Unterarm. Ich bekam die Nummer A-7713 und hatte damit keinen Namen mehr. Gegen Abend Appell. Die Arbeitskommandos waren heimgekehrt. An der Türe spielte die Musikkapelle Militärmärsche. Zehntausende von Häftlingen standen stramm, während die SS-Männer abzählen ließen. Nach dem Appell zerstreuten sich die Gefangenen aller Blocks auf der Suche nach Freunden, Verwandten, Nachbarn, die alle mit dem letzten Transport angekommen sein mußten.
Die Tage vergingen. Morgens schwarzer Kaffee. Mittags Suppe. (Am dritten Tag verschlang im bereits jede Suppe mit Heißhunger.) Sechs Uhr abends: Appell. Dann Brot und etwas dazu. Um neun Uhr: Nachtruhe. Seit acht Tagen waren wir in Auschwitz. Es war abends, nach dem Appell. Wir warteten nur noch auf den Glockenton, der das Ende des Appells anzeigte. Mit einemmal hörte ich jemanden durch die Reihen gehen und fragen:
„Wer von euch heißt Wiesel und ist aus Sighet?“ Der Suchende war ein bebrilltes Männchen mit einem gealterten, durchfurchten Gesicht. Mein Vater antwortete:
„Ich bin Wiesel aus Sighet.“ Der kleine Mann musterte ihn lange aus engen Augenschlitzen:
„Sie erkennen mich nicht... Sie kennen mich nicht wieder... Ich bin Ihr Verwandter, Stein. Haben Sie mich schon vergessen? Stein! Stein aus Antwerpen. Reizels Mann. Ihre Frau war Reizels Tante. Sie schrieb uns oft... und was für Briefe!“
Mein Vater hatte ihn nicht wiedererkannt. Er konnte ihn kaum gekannt haben, denn er steckte stets bis zum Hals in den Angelegenheiten der Gemeinde und fand daher kaum Zeit für Familiäres. Er war stets anderswo gewesen, in Pläne, in Gedanken versunken. (Einmal besuchte uns in Sighet eine Base. Zwei Wochen wohnte sie bei uns und saß an unserem Tisch, bis mein Vater ihre Anwesenheit bemerkte.) Nein, er konnte sich nicht an Stein erinnern. Ich erkannte ihn jedoch sofort wieder.
Ich hatte auch seine Frau Reizel vor ihrer Übersiedlung nach Belgien gekannt. Er sagte:
„Man hat mich im Jahre 1942 deportiert. Man hat mir gesagt, daß ein Transport aus eurer Gegend angekommen ist, daher habe ich dich gesucht. Ich dachte: vielleicht habt ihr Nachrichten von Reizel und meinen beiden Jungens, die in Antwerpen geblieben sind.“
Ich wußte nichts von ihrem Schicksal. Seit 1940 hatte meine Mutter nur noch einen Brief von ihnen erhalten. Ich log:
„Ja, meine Mutter hat Nachrichten von euch. Reizel geht es gut. Den Kindern auch.“
Er weinte vor Freude. Er wäre gerne noch lange geblieben, hätte gerne noch mehr erfahren, die guten Nachrichten hungrig eingesogen, aber ein SS-Mann kam auf uns zu, so daß er sich aus dem Staube machen mußte und nur noch zurückrufen konnte, er würde morgen wiederkommen.
Die Glocke kündigte an, daß man wegtreten könne. Wir holten also unser Nachtmahl, Brot und Margarine. Ich hatte furchtbaren Hunger und schlang meine Ration auf der Stelle hinunter. Mein Vater sagte:
„Iß nicht alles auf einmal. Morgen ist auch noch ein Tag...“
Da er sah, daß sein Rat zu spät gekommen und meine Ration aufgegessen war, griff er die seine nicht an:
„Ich habe keinen Hunger.“
Drei Wochen blieben wir in Auschwitz, ohne etwas zu tun. Wir schliefen viel, nicht nur nachts, sondern auch nachmittags.
Unsere einzige Sorge war, eine Weiterreise vermeiden und so lange als möglich hier bleiben zu können. Das fiel nicht schwer: es genügte, sich nirgends als Facharbeiter zu melden. Machenschaften bewahrte man sich bis zum Schluß auf.
Gegen Ende der dritten Woche setzte man unseren für zu menschlich befundenen Chef ab. Unser neuer Chef war ein Wüterich, seine Handlanger waren wahre Ungeheuer. Die schönen Tage waren vorüber. Wir begannen uns zu fragen, ob es nicht besser sei, uns für den nächsten Abtransport einteilen zu lassen. Stein, unser Verwandter aus Antwerpen, besuchte uns weiterhin von Zeit zu Zeit und brachte jedesmal eine halbe Ration Brot mit:
„Hier, das ist für dich, Elieser.“ Jedesmal liefen ihm die Tränen über die Wangen, wo sie hängen blieben und trockneten. Häufig sagte er zu meinem Vater:
„Paß auf deinen Jungen auf. Er ist schwach, ausgehöhlt. Sieh zu, daß er nicht ausgesondert wird. Eßt! Eßt zu jeder Zeit und was ihr auftreiben könnt. Wer schwach ist, macht es hier nicht lange mit. ..“
Dabei war er selbst so mager, so ausgehungert, so schwächlich.
„Das einzige, was mich am leben hält“, pflegte er zu sagen, „ist, daß Reizel und meine Kleinen noch am leben sind. Ohne diese Gewißheit würde ich nicht durchhalten.“ Eines Abends kam er strahlend angelaufen.
„Ein Transport aus Antwerpen ist eben angekommen. Morgen gehe ich hin. Sie werden bestimmt Nachrichten mitbringen.“
Und fort war er.
Wir sollten ihn nicht wiedersehen. Er erhielt Neuigkeiten, wahre Neuigkeiten.

Abends versuchten wir auf unseren Pritschen die eine oder andere chassidische Weise zu singen, und Akiba Drumer brach uns das Herz mit seiner tiefen vollen Stimme.
Manch einer sprach von Gott und seinen geheimnisvollen Wegen, von den Sünden des jüdischen Volkes und von der künftigen Erlösung. Ich hatte zu beten aufgehört. Wie ich Hiob verstand! Ich leugnete zwar nicht Gottes Existenz, zweifelte aber an seiner unbedingten Gerechtigkeit.
Akiba Drumer sagte:
„Gott versucht uns. Er will sehen, ob wir imstande sind, die schlechten Triebe zu bezähmen, Satan in uns zu töten. Wir haben nicht das Recht zu verzweifeln. Und wenn er uns unbarmherzig straft, ist das ein Zeichen dafür, daß er uns um so mehr liebt.“
Der in der Kabbala bewanderte Hersch Genud sprach vom Ende der Welt und vom Kommen des Messias. Von Zeit zu Zeit freilich summte ein Gedanke in meinem Kopf: „Wo ist Mama in diesem Augenblick ... und Tsipora…“
„Mama ist noch eine junge Frau“, sagte einmal mein Vater. „Sie wird in einem Arbeitslager sein. Und Tsipora, die doch schon ein großes Mädchen ist, wird auch in einem Lager sein...“
Wie man daran glauben wollte! Man tat so. Ob der andere daran glaubte?
Alle Facharbeiter waren bereits in andere Lager überführt worden. Wir waren nur mehr etwa hundert einfache Handarbeiter.
„Heute kommt ihr dran“, verkündete uns der Blocksekretär. „Ihr geht mit dem Transport.“
Um zehn Uhr gab man uns die tägliche Brotration.
Etwa zehn SS-Männer umringten uns. Am Tor wieder das Schild mit der Aufschrift: „Arbeit ist Freiheit.“ Abzählen. Und schon waren wir auf freiem Feld unterwegs.
Am Himmel schwammen ein paar weiße Wölkchen. Es ging langsam vorwärts. Die Wächter hatten keine Eile, und wir waren froh darüber. Beim Durchqueren von Dörfern blickten uns viele Deutsche ohne Verwunderung nach. Wahrscheinlich hatten sie schon viele derartige Kolonnen gesehen...
Unterwegs begegneten wir deutschen jungen Mädchen, die sich von den Aufsehern necken, umarmen, kitzeln ließen und hell auflachten. Alle lachten, scherzten und warfen sich eine Wegstrecke Koseworte zu. Während dieser Zeit hatten wir wenigstens weder Schläge noch Schimpfworte auszustehen.
Nach vierstündigem Marsch kamen wir wieder zu einem Lager: Buna. Ein eisernes Tor fiel hinter uns ins Schloß.
Das Lager schien eine Epidemie hinter sich zu haben, so leer und tot sah es aus. Nur einige gutgekleidete Häftlinge schlenderten zwischen den Blocks einher. Natürlich ging es zuerst wieder unter die Dusche. Dort erschien der Lagerchef, ein kräftiger, gutgebauter Mann mit breiten Schultern, einem Stiernacken, dicken Lippen und Kraushaar. Er schien ein guter Mensch zu sein. Von Zeit zu Zeit leuchtete ein Lächeln in seinen blaugrauen Augen auf. In unserem Zug befanden sich einige Kinder von zehn und zwölf Jahren. Der Offizier nahm sich ihrer an und ließ für sie zu essen kommen. Nachdem wir neue Kleider erhalten hatten, wurden wir in zwei Zelten untergebracht. Es hieß, wir müßten warten, bis wir in Arbeitskommandos eingeteilt würden, um dann in Blocks zu kommen.
Am Abend kamen die Arbeitskommandos von den Arbeitsplätzen zurück. Appell. Wir suchten nach Bekannten, erkundigten uns bei den Alten, welches Arbeitskommando das beste sei, in welchen Block man eingeteilt werden müsse. Alle Häftlinge erklärten einstimmig: „Buna ist ein sehr gutes Lager. Hier hält man es aus. Wichtig ist nur, nicht ins Baukommando eingeteilt zu werden...“
Als ob die Wahl in unseren Händen gelegen hätte.

Unser Zeltwart war ein Deutscher mit einem Mördergesicht, mit fleischigen Lippen und Händen wie Wolfspfoten. Die Lagerkost schien ihm zu bekommen, denn er konnte sich kaum regen. Wie der Lagerchef liebte er Kinder. Gleich nach unserer Ankunft ließ er Brot für sie kommen, Suppe und Margarine. (In Wahrheit war diese Zuneigung berechnet, denn die kleinen Jungen wurden unter den Homosexuellen des Lagers als Genußobjekte verschachert, wie ich später erfuhr.) Er verkündete:
„Ihr bleibt drei Tage bei mir in Quarantäne. Dann werdet ihr arbeiten. Morgen ist ärztliche Untersuchung.“
Einer seiner Helfer, ein Junge mit rohem Spitzbubengesicht, kam auf mich zu:
„Willst du zu einem guten Kommando?“
„Gewiß. Aber unter einer Bedingung: daß mein Vater bei mir bleibt...“
„Einverstanden“, sagte er. „Das kann im schaukeln. Für eine Kleinigkeit: deine Schuhe. Du kriegst dafür andere.“
Ich lehnte ab, die Stiefel waren alles, was mir übrig geblieben war.
„Ich gebe dir noch eine Ration Brot mit einem Stück Margarine dazu...“
Die Stiefel gefielen ihm, aber ich trat sie ihm nicht ab. (Später hat man mir sie ohnehin weggenommen. Freilich ohne Gegengabe.)

Am nächsten Morgen fand in aller Frühe die Untersuchung im Freien vor drei auf einer Bank sitzenden Ärzten statt.
Der erste faßte mich gar nicht an und fragte nur:
„Geht dir’s gut?“
Wer hätte das Gegenteil zu sagen gewagt?
Der Zahnarzt hingegen schien gewissenhafter: man mußte den Mund weit aufmachen. Tatsächlich suchte er nicht nach schlechten Zähnen, sondern nach Goldplomben. Wer Gold im Mund hatte, wurde in eine Liste eingetragen. Ich selbst hatte eine Krone.
Die ersten drei Tage verliefen rasch. Am vierten Tag, als wir frühmorgens vor dem Zelt standen, erschienen Kapos, von denen ein jeder sich die Leute aussuchte, die ihm gefielen:
„ Du ... du ... und du ...“ Er deutete auf uns, wie man auf eine Ware, auf ein Tier deutet.
Wir folgten unserem Kapo, einem jungen Menschen. Am Eingang zum ersten Block neben dem Lagertor ließ er anhalten. Das war der Block der Musikkapelle. „Hinein!“ befahl er. Wir waren verwundert: was hatten wir mit den Musikern zu schaffen?
Der Bläserchor spielte einen Militärmarsch, immer denselben. Dutzende von Kommandos zogen im Gleichschritt zu den Arbeitsplätzen, während die Kapos im Takt riefen: „Links, rechts, links, rechts.“
SS-Offiziere, Papier und Bleistift in der Hand, notierten die Anzahl der ausziehenden Männer. Der Spielmannszug spielte denselben Marsch bis zum Abmarsch des letzten Kommandos. Nun ließ der Musikmeister den Taktstock sinken. Das Spiel brach ab, und der Kapo brüllte: „Antreten!“
Wir traten mit der Kapelle in Fünferreihen an und marschierten zwar ohne Musik, aber im Gleichschritt, zum Lager hinaus, noch immer hallte der Marsch in unseren Ohren nach.
„Links, rechts! Links, rechts!“
Wir begannen ein Gespräch mit den Musikern, die fast alle Juden waren. So der Pole Juliek mit einer Brille auf der Nase und einem zynischen Lächeln auf seinem blassen Gesicht. So der aus Holland stammende Louis, ein bekannter Geiger, der darüber klagte, daß man ihn nicht Beethoven spielen ließ: die Juden hatten kein Recht, deutsche Musik zu spielen. Hans, ein geistvoller junger Berliner. Auch der Musikmeister war Pole: Franek, ein ehemaliger Student aus Warschau. Juliek erklärte:
„Wir arbeiten in einem Elektro-Lager, nicht weit von hier. Die Arbeit ist weder schwer noch gefährlich. Nur hat Idek, der Kapo, von Zeit zu Zeit Wahnsinnsanfälle, und dann empfiehlt es sich, weit vom Schuß zu sein.“
„Du hast Glück, Kleiner“, meinte Hans lächelnd. „Du bist in ein gutes Kommando geraten ...“
Zehn Minuten später standen wir vor dem Depot. Ein deutscher Zivilbeamter, der Meister, kam uns entgegen, schenkte jedoch keinem von uns mehr Aufmerksamkeit als einem Bündel Lumpen.
Unsere Kameraden hatten recht die Arbeit war nicht schwierig. Auf der Erde kauernd, mußte man Bolzen, Ampullen und kleine Elektro-Ersatzteile zählen. Weitschweifig erklärte uns der Kapo die große Wichtigkeit dieser Arbeit und warnte uns, daß jeder, der faul wäre, es mit ihm zu tun bekommen würde. Meine neuen Kameraden beruhigten mich.
„Hab keine Angst. Er sagt das nur wegen des Meisters.“ Es waren auch zahlreiche Polen und einige Französinnen da, die den Musikern zunickten.
Franek, der Werkführer, wies mir eine Ecke an: „Bring dich nicht um und laß alles ruhig angehen. Paß nur auf, daß dich kein SS-Mann erwischt.“
„Ich möchte aber bei meinem Vater bleiben, Herr Werkführer.“
„Na schön. Dann arbeitet dein Vater eben neben dir.“ Wir hatten Glück.
Zwei Jungens wurden unserer Gruppe zugeteilt: Jossi und Tibi, zwei Brüder aus der Tschechei, deren Eltern in Birkenau vergast worden waren. Sie waren ein Herz und eine Seele.
Bald wurden sie unsere Freunde. Da sie einst einer zionistischen Jugendorganisation angehört hatten, kannten sie zahllose hebräische Lieder. Es kam daher oft vor, daß wir leise Lieder vor uns hin trällerten, in denen wir die stillen Wasser des Jordans und die erhabene Heiligkeit Jerusalems beschworen. Wir sprachen auch oft von Palästina. Ihre Eltern hatten nicht den Mut gefunden, alles aufzulösen und auszuwandern, als es noch Zeit war. So beschlossen wir, daß wir keinen Tag in Europa bleiben würden, sofern es uns gewährt sei, den Tag der Freiheit zu erleben. Mit dem ersten Schiff würden wir nach Haifa fahren.
In seinen kabbalistischen Träumereien versunken, hatte Akiba Drumer einen Bibelvers entdeckt, dessen in Zahlen übersetzter Wortlaut ihm gestattete, die Befreiung für die kommenden Wochen vorauszusagen.
Inzwischen hatten wir die Zelte mit dem Block der Musiker vertauscht. Hier stand uns eine Decke, ein Waschbecken und ein Stück Seife zu. Der Blockälteste war ein deutscher Jude.
Es war gut, einen Juden als Aufseher zu haben. Er hieß Alfons, ein junger Mann mit einem verblüffend alten Gesicht, der ganz im Dienst seines Blocks aufging. So oft er konnte, trieb er einen zusätzlichen Topf Suppe auf für die Halbwüchsigen, die Schwachen, für all die, die mehr von einem zweiten Napf Suppe als von der Freiheit träumten.
Eines Tages, nach der Rückkehr vom Elektrodepot, rief mich der Blocksekretär:
„A-7713.“
„Hier.“
„Nach dem Essen gehst du zum Zahnarzt.“
„Aber ... ich habe doch keine Zahnschmerzen ...“
„Nach dem Essen! Vergiß es nicht!“
Im ging ins Lazarett. Etwa zwanzig Häftlinge warteten in einer Schlange vor der Tür. Es dauerte nicht lange, bis wir den Grund unserer Einberufung erfuhren: die Goldkronen sollten gezogen werden.
Der Zahnarzt, ein aus der Tschechei gebürtiger Jude, hatte ein Gesicht, das einer Totenmaske ähnelte. Wenn er den Mund aufmachte, sah man nur gelbe, verfaulte Zähne. Im Stuhl sitzend, fragte ich bescheiden:
„Was werden Sie machen, Herr Doktor?“
„Die Goldkrone extrahieren, nicht mehr,“ sagte er gleichgültig.
Ich stellte mich unwohl:
„Könnten Sie nicht ein paar Tage warten, Herr Doktor? Mir ist nicht gut, ich habe Fieber ...“
Er runzelte die Stirn, dachte einen Augenblick nach und fühlte meinen Puls.
„Na schön, Kleiner. Wenn dir’s besser geht, komme wieder her. Aber warte nicht, bis ich dich rufe!“
Eine Woche später ging ich wieder hin. Mit der gleichen Entschuldigung: ich war immer noch nicht wiederhergestellt. Er schien nicht verwundert, und ich weiß nicht, ob er mir glaubte. Vermutlich war er befriedigt, daß im meinem Versprechen gemäß gekommen war. Wieder räumte er mir einen Aufschub ein.
Einige Tage nach meinem Besuch schloß man die Praxis des Zahnarztes, der ins Gefängnis wanderte. Er sollte gehängt werden, weil sich herausgestellt hatte, daß er mit den Goldzähnen der Inhaftierten auf eigene Rechnung Schmuggelhandel trieb. Ich empfand keinerlei Mitleid mit ihm. Ich frohlockte sogar über sein Schicksal: auf diese Weise rettete ich meine Goldkrone. Eines Tages konnte sie mir vielleicht dazu dienen, etwas Lebensnotwendiges zu kaufen, Brot, ja das Leben. Mein ganzes Streben zielte nur noch auf meinen täglichen Teller Suppe, auf meinen Kanten altbackenes Brot hin. Brot, Suppe - das war mein Leben, nicht mehr. Im war nur noch ein Körper. Vielleicht noch weniger: ein hungriger Magen. Nur der Magen fühlte die Zeit verstreichen.
Oft arbeitete ich im Depot neben einer jungen Französin. Wir sprachen nicht, denn sie verstand kein Deutsch und im kein Französisch.
Sie schien Jüdin zu sein, obgleich sie für eine „Arierin“ galt. Sie war hierher zwangsdeportiert worden.
Eines Tages, als Idek sich gehen ließ, stand ich ihm im Weg. Wie ein wildes Tier warf er sich auf mich und schlug mich auf die Brust, auf den Kopf, stieß mich zurück, riß mich wieder an sich und ließ Hiebe auf mich hageln, bis ich blutüberströmt dastand. Da ich mir auf die Lippen biß, um nicht vor Schmerz aufzuheulen, hielt er wohl mein Schweigen für Verachtung und schlug immer wütender auf mich ein.
Plötzlich beruhigte er sich und schickte mich an meine Arbeit zurück, als sei nichts geschehen, als hätten wir ein Spiel mit gleichen Rollen zusammen gespielt. So schleppte ich mich in meine Ecke. Mein ganzer Körper schmerzte. Plötzlich fühlte ich eine kühle Hand meine blutende Stirn abwischen. Es war die französische Zwangsarbeiterin. Sie lächelte mir trauervoll zu und schob mir ein Stück Brot in die Hand, dabei blickte sie mir gerade in die Augen. Ich fühlte, daß sie sprechen wollte, aber die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Lange verharrte sie so, dann hellten sich ihre Züge auf, und sie sagte in fast richtigem Deutsch:
„Beiß dir auf die Lippen, Brüderchen ... Weine nicht. Bewahr dir deinen Zorn und deinen Haß für einen anderen Tag, für später auf. Es kommt ein Tag, aber noch nicht gleich ... Warte, beiß auf die Zähne und warte ...“
Jahre später, in Paris, fuhr ich zeitunglesend in der Metro. Mir gegenüber saß eine schöne Frau mit schwarzen Haaren und träumerischen Augen, Augen, die ich schon irgendwo gesehen hatte. Das war sie.
„Erkennen Sie mich nicht, gnädige Frau?“
„Ich kenne Sie nicht, mein Herr.“
„1944 waren Sie doch in Deutschland, in Buna, oder nicht?“
„Gewiß ...“
„Sie arbeiteten im Elektro-Depot ...“
„Gewiß“, sagte sie verwirrt. Und nach einem kurzen Schweigen: „Warten Sie ... ich erinnere mich ...“
„Idek, der Kapo ... der kleine Judenjunge ... Ihre sanften Worte ...“
Wir stiegen zusammen aus und setzten uns in ein Terrassencafé. Den ganzen Abend verbrachten wir mit unseren Erinnerungen. Bevor ich sie verließ, fragte ich sie:
„Darf ich eine Frage an Sie stellen?“
„Bitte! Ich weiß, welche.“
„Welche?“
„Ob ich Jüdin bin? ... Ja, ich bin Jüdin aus einer orthodoxen Familie. Ich hatte mir während der Besatzung falsche Papiere besorgt, um als Arierin durchzugehen. Auf diese Weise wurde ich zur Zwangsarbeit eingeteilt und entging bei der Deportation nach Deutschland dem Konzentrationslager. Im Depot wußte niemand, daß ich deutsch sprach: das hätte nur Argwohn erregt. Die wenigen Worte, die ich zu Ihnen sagte, waren unbedacht. Aber ich wußte, daß Sie mich nicht verraten würden ...“
Ein anderes Mal hieß es, unter der Aufsicht deutscher Soldaten Dieselmotoren aufladen. Idek bebte vor Wut und beherrschte sich nur mit großer Mühe. Plötzlich platzte er heraus, das Opfer war mein Vater.
„Alter Faulpelz“, schrie er. „Das nennst du arbeiten?“ Und hieb mit einem Eisenstab auf ihn ein. Zuerst duckte sich mein Vater unter den Schlägen, dann brach er wie ein vom Blitz getroffener, ausgedörrter Baum zusammen. Ich hatte dem Auftritt beigewohnt, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich schwieg, vielmehr hielt ich es für richtig, mich zu entfernen, um nicht auch Hiebe abzubekommen. Ja noch mehr: wenn ich in diesem Augenblick Zorn verspürte, richtete er sich nicht gegen den Kapo, sondern gegen meinen Vater. Ich nahm es ihm übel, daß er den Vorfall mit dem Kapo nicht zu verhindern gewußt hatte. Soweit hatte das Leben im Konzentrationslager mich schon gebracht.
Eines Tages bemerkte der Werkmeister Franek, daß ich eine Goldkrone im Mund hatte.
„Kleiner, gib mir deine Krone.“
Im antwortete, das sei unmöglich, denn ohne die Krone könne ich nicht essen.
„Für das, was man dir zu essen gibt, Kleiner!“
Ich fand eine andere Ausrede: man hatte meine Krone bei der ärztlichen Untersuchung aufnotiert, das konnte uns beiden Unannehmlichkeiten einbringen.
„ Wenn du mir nicht deine Krone gibst, kann es dich viel teurer zu stehen kommen!“
Dieser sympathische, kluge Junge war plötzlich nicht mehr derselbe. Seine Augen blitzten neidisch. Ich sagte ihm, ich müsse meinen Vater um Rat bitten.
„Frage deinen Vater, Kleiner. Aber morgen will ich eine Antwort haben!“
Als ich meinen Vater fragte, erblaßte er, schwieg eine Weile und sagte:
„Nein, mein Sohn, das können wir nicht machen.“
„Er wird sich rächen!“
„Er wird’s nicht wagen!“
Leider wußte er, wie er vorgehen mußte, denn er kannte meine Schwäche. Mein Vater hatte nie Militärdienst geleistet und marschierte daher nie im Gleichschritt. Nun wurde im Lager nur im Gleichschritt marschiert, und das gab Franek die Gelegenheit, ihn zu quälen und ihn jeden Tag mit Stockschlägen zuzurichten. Links, rechts: Fausthiebe! Links, rechts: Ohrfeigen! Ich beschloß daher, meinem Vater Unterricht im Gleichschritt und Schrittwechsel zu geben, ein Training, das vor unserem Block stattfand. Ich kommandierte:
„Links, rechts!“ und mein Vater tat sein Bestes. Schon machten sich die Inhaftierten über uns lustig:
„Schaut nur den kleinen General an, der dem Alten das Gehen beibringt. Heda, kleiner General, wieviel Rationen Brot gibt dir dein Alter dafür?“
Aber die Fortschritte meines Vaters waren ungenügend, so daß die Schläge weiter auf ihn niederprasselten.
„Du weißt also nicht, wie man im Gleichschritt marschiert, alter Faulpelz?“
Diese Szenen wiederholten sich zwei Wochen lang.
Wir konnten nicht mehr, wir mußten klein beigeben. An diesem Tag platzte Franek wild lachend heraus: „Im wußte es, Kleiner, ich wußte sehr genau, daß ich dich kleinkriegen würde. Lieber spät als nie. Und weil du mich hast warten lassen, kostet das dich noch eine weitere Ration Brot. Eine Ration Brot für einen meiner Kumpels, einen berühmten Warschauer Zahnarzt. Dafür, daß er dir die Krone herausnimmt.“
„Wie? Meine Brotration dafür, daß du meine Krone kriegst?“
Franek lächelte.
„Oder willst du lieber, daß ich dir die Zähne einschlage?“
Am selben Abend brach der Warschauer Zahnarzt mir auf dem Abort meine Krone mit Hilfe eines verrosteten Löffels heraus.
Franek wurde freundlicher, von Zeit zu Zeit gab er mir sogar einen zweiten Schlag Suppe. Aber das hielt nicht lange an. Vierzehn Tage später wurden die Polen in ein anderes Lager versetzt. Somit hatte ich meine Krone umsonst eingebüßt.
Einige Tage nach der Versetzung der Polen machte ich eine neue Erfahrung.
Es war an einem Sonntagmorgen. Unser Kommando brauchte an diesem Tag nicht zu arbeiten. Aber gerade Idek wollte davon nichts wissen, wir mußten unbedingt ins Depot marschieren. Diese plötzliche Arbeitswut verblüffte uns. Dort übergab er uns Franek und sagte:
„Macht, was ihr wollt. Aber tut was. Sonst bekommt ihr's mit mir zu tun ...“
Damit verschwand er.
Wir wußten nicht, was wir tun sollten. Müde vom Herumhocken, schlenderte jeder für sich im Depot umher, auf der Suche nach einem Stückchen Brot, das ein Zivilbeamter vielleicht zurückgelassen hatte.
Am Ende des Gebäudes angekommen, hörte ich aus einem kleinen Nebenraum ein Geräusch. Ich trat näher und sah auf einem Strohsack Idek und eine junge Polin in halbnackter Umarmung. Jetzt begriff ich, warum Idek sich geweigert hatte, uns im Lager zu lassen. Nur um mit einem Mädchen zu schlafen, mußten hundert Gefangene herum bugsiert werden. Das kam mir so komisch vor, daß ich laut herauslachte.
Idek fuhr auf, drehte sich um und sah mich, während das Mädchen seine Brüste zu verdecken suchte. Ich wollte fliehen, aber meine Beine klebten am Boden. Idek packte mich an der Kehle. Dumpf knurrte er:
„Ich werd dich lehren, mein Bürschchen, deinen Arbeitsplatz zu verlassen! Das wirst du büßen… Und nun geh an deinen Platz zurück und zwar dalli ...“
Eine halbe Stunde vor dem normalen Arbeitsschluß ließ der Kapo das ganze Kommando antreten. Niemand begriff, worum es ging. Appell zu dieser Stunde? Ich wußte es. Der Kapo hielt eine kurze Ansprache:
„Ein einfacher Gefangener hat nicht das Recht, sich in die Angelegenheiten anderer zu mischen. Einer von euch scheint das nicht begriffen zu haben. Ich werde daher versuchen, es ihm ein für allemal beizubringen.“ Ich fühlte, wie der Schweiß mir den Rücken herunterlief.
„A-7713“
Ich trat vor.
„Eine Kiste!“ befahl er.
Man brachte eine Kiste.
„Leg dich darauf! Auf den Bauch!“
Ich gehorchte.
Dann fühlte ich nur noch Peitschenhiebe.
„Eins! Zwei!“ … zählte er.
Er nahm sich Zeit. Nur die ersten Hiebe taten mir weh. Ich hörte ihn zählen:
„Zahn – elf!“
Seine Stimme war ruhig und erreichte mich wie durch eine dicke Mauer.
„Dreiundzwanzig . . .“
Noch zwei, dachte im unbewußt. Der Kapo wartete.
„Vierundzwanzig . . . fünfundzwanzig!“
Die Strafe war zu Ende. Ich hatte es allerdings nicht gemerkt, ich war bewußtlos geworden. Unter einem kalten Wasserstrahl kam ich langsam zu mir. Noch immer lag ich auf der Kiste. Ich sah nur unbestimmt die feuchte Erde neben mir. Dann hörte ich jemanden schreien. Das mußte der Kapo sein. Ich begann zu unterscheiden, was er brüllte:
„Aufstehen!“
Wahrscheinlich versuchte ich, aufzustehen, denn ich fühlte mich auf die Kiste zurückfallen. Wie gerne wäre ich aufgestanden!
Hätte ich antworten können, ich hätte ihm gesagt, daß ich mich nicht bewegen konnte. Aber ich brachte die Lippen nicht auseinander.
Auf Befehl Ideks hoben mich zwei Häftlinge auf und führten mich vor ihn.
„Schau mir ins Gesicht!“
Ich blickte ihn an, ohne ihn zu sehen. Ich dachte an meinen Vater. Sicherlich litt er mehr als ich.
„Hör zu, Schweinehund!“ sagte Idek kalt. „Das hast du für deine Neugier. Du kriegst fünfmal soviel, wenn du den Mund aufmachst! Verstanden?“
Ich nickte, einmal, zehnmal, ich nickte ununterbrochen, als sei mein Kopf entschlossen, ja zu sagen, ohne jemals wieder aufzuhören.
Eines Sonntags, während die Hälfte von uns, darunter mein Vater, bei der Arbeit war, schliefen die anderen, darunter ich, bis in den Morgen hinein. Gegen zehn Uhr ertönte die Alarmsirene. Die Blockchefs sammelten uns in den Blocks, während die SS-Männer in die Bunker flüchteten. Da es verhältnismäßig leicht war, während des Luftalarms auszukneifen - die Aufseher verließen ihre Wachtürme und der Starkstrom wurde im Stacheldraht ausgeschaltet -, hatte die SS Befehl erhalten, jeden zu erschießen, der außerhalb der Blocks angetroffen wurde.
In wenigen Augenblicken glich das Lager einem verlassenen Schiff. Keine Menschenseele war in den Verbindungswegen zu sehen. Vor der Küche waren zwei halbvolle Kessel mit heißer dampfender Suppe ohne Bewachung stehengelassen worden. Welcher Festschmaus, welche Versuchung! Hunderte von Augen schielten gierig hinüber, Hunderte von Wolfsaugen, die zwei Lämmer, zwei hirtenlose Lämmer bespähten. Aber wer würde es wagen?
Der Schrecken war größer als der Hunger. Plötzlich sahen wir die Türe von Block 37 unauffällig aufgehen. Ein Mann erschien und kroch wie ein Wurm in Richtung auf die Kessel zu.
Hunderte von Augen folgten seinen Bewegungen. Hunderte von Männern krochen in Gedanken mit ihm und rissen sich mit ihm die Hände und Knie im Kies wund. Alle Herzen zitterten, vor allem aber aus Neid. Denn er hatte es gewagt.
Er berührte den ersten Kessel, die Herzen bebten noch stärker: ihm war es geglückt. Der Neid verzehrte uns, verbrannte uns wie Stroh. Nicht einen Augenblick dachten wir daran, ihn zu bewundern. Armer Held, der nur wegen einer Ration Suppe dem Selbstmord entgegenkroch, wir mordeten ihn in Gedanken.
Neben dem Kessel auf dem Boden liegend, versuchte er sich inzwischen zum Rand hochzuschieben. Sei es aus Schwäche, sei es aus Furcht, kauerte er dort und raffte fraglos seine letzten Kräfte zusammen. Endlich gelang es ihm, sich bis zum Rand des Behälters hochzuhieven. Einen Augenblick schien er in der Suppe sein gespenstisches Spiegelbild zu suchen. Dann stieß er ohne offensichtlichen Grund einen schrecklichen Schrei aus, ein Röcheln, das ich noch nie von einem Lebenden vernommen hatte, und warf den Kopf mit dem weitgeöffneten Mund in das noch dampfende Naß. Bei der Detonation zuckten wir zusammen. Auf die Erde zurücksinkend, das Gesicht von Suppe verschmiert, krümmte der Mann sich einige Sekunden am Fuß des Kessels, dann rührte er sich nicht mehr.
Jetzt begannen wir das Geräusch von Flugzeugmotoren zu vernehmen. Und im selben Augenblick erbebten die Baracken.
„Buna wird bombardiert!“ schrie einer.
Ich dachte an meinen Vater. Trotzdem war im froh. Welche Rache, wenn das Werk in Schutt und Asche aufgehen würde! Wohl hatte man von den Niederlagen der deutschen Truppen an den verschiedenen Fronten gehört, wußte jedoch nicht, ob man daran glauben durfte. Heute erlebten wir einen greifbaren Beweis! Keiner von uns hatte Angst. Gleichwohl hätte ein einziger Treffer Hunderte von Häftlingen getötet. Wir fürchteten jedoch den Tod nicht mehr, jedenfalls nicht diesen Tod. Jede Bombe, die fiel, gab uns neu es Vertrauen ins Leben.
Die Bombardierung hielt mehr als eine Stunde an. Hätte sie doch zehnmal zehn Stunden gedauert ... Dann wurde es wieder still. Das letzte Geräusch von Flugzeugmotoren verschwand mit dem Wind, und wir waren wieder in unserem Friedhof. Am Horizont stiegen dichte Rauchschwaden in die Luft. Von neuem heulten die Sirenen. Entwarnung.
Alles lief aus den Blocks. Gierig sog man die feuer- und rauchgeschwängerte Luft ein, alle Augen glänzten hoffnungsfreudig. Eine Bombe war mitten im Lager, in der Nähe des Appellplatzes niedergegangen, aber nicht explodiert. Wir mußten sie aus der Umzäunung zerren. Der Lagerchef machte in Begleitung seines Adjutanten und des Oberkapos einen Inspektionsgang durch die Lagerstraßen. Der Bombenangriff hatte auf seinem Gesicht Spuren tiefer Angst hinterlassen.
Mitten auf dem Platz lag als einziges Opfer der Leichnam des suppenverschmierten Mannes. Die Kessel wurden in die Küche zurückgeschleppt.
Die SS-Männer bezogen wieder ihre Posten auf den Türmchen hinter ihren Maschinengewehren. Das Zwischenspiel war beendet.
Nach einer Stunde sah man die Kommandos wie üblich im Gleichschritt zurückkommen. Froh erkannte ich meinen Vater.
„Mehrere Gebäude sind vernichtet worden“, erzählte er, „aber das Depot hat nicht gelitten ...“
Nachmittags räumten wir fleißig die Trümmer fort. Eine Woche später sahen wir beim Heimkehren von der Arbeit auf dem Appellplatz, mitten im Lager, einen Galgen aufragen.
Wir erfuhren, daß die Suppe erst nach dem Antreten verteilt werden würde, was länger als gewöhnlich dauerte. Die Befehle wurden trockener, barscher gegeben als sonst, etwas Sonderbares, Befremdliches lag in der Luft.
„Mützen ab!“ brüllte plötzlich der Lagerchef. Zehntausend Mützen wurden auf einmal abgenommen.
„Mützen auf!“
Zehntausend Mützen wurden blitzschnell aufgesetzt. Die Lagertür öffnete sich. Eine Abteilung SS erschien und umstellte uns, ein SS-Mann alle drei Schritt. Die Maschinengewehre der Türme zielten auf den Platz. „Sie fürchten Unruhen!“ murmelte Juliek. Zwei SS-Männer gingen auf das Gefängnis zu. Den Verurteilten in der Mitte führend, kehrten sie zurück. Es war ein junger Warschauer, der drei Jahre Konzentrationslager hinter sich hatte, ein kräftiger, gutgewachsener Junge, ein Hüne im Vergleich zu mir.
Mit dem Rücken gegen den Galgen, das blasse Gesicht auf seinen Richter gerichtet, schien er eher bewegt als erschrocken. Seine gefesselten Hände zitterten nicht. Kalt musterten seine Augen die Hunderte von SS-Männern, die Tausende von Gefangenen, die ihn umgaben. Der Lagerchef verlas das Urteil und betonte dabei jeden Satz.
„Im Namen Himmlers ... Der Häftling Nr. hat während des Fliegeralarms gestohlen ... Laut Gesetz ... Paragraph ... ist der Häftling Nr. zum Tode verurteilt. Das soll allen Gefangenen als Warnung und Beispiel dienen.“
Kein Mensch rührte sich.
Ich hörte mein Herz klopfen. Die Tausende von Menschen, die täglich in Auschwitz und Birkenau in den Gaskammern starben, hatten aufgehört, mich zu verwirren. Aber dieser, der an seinem Todesgalgen lehnte, erschütterte mich.
„Wird’s bald? Ich habe Hunger ...“, tuschelte Juliek. Auf ein Zeichen des Lagerchefs trat der Lagerkapo auf den Verurteilten zu. Zwei Gefangene halfen ihm bei seiner Aufgabe. Für zwei Teller Suppe.
Der Kapo wollte die Augen des Todeskandidaten verbinden, aber dieser wehrte ab.
Nach langem Warten legte ihm der Henker den Strick um den Hals. Er wollte seinen Handlangern gerade ein Zeichen geben, den Stuhl unter den Füßen des Verurteilten wegzuziehen, als dieser mit starker, ruhiger Stimme rief:
„Es lebe die Freiheit! Ich verfluche Deutschland! Ich verfluche, ich verfl...“
Die Henker hatten ihre Arbeit vollendet. Messerscharf durchdrang ein Befehl die Luft: „Mützen ab!“
Zehntausend Häftlinge ehrten den Toten.
„Mützen auf.“
Dann mußte das ganze Lager, Block für Block, an dem Erhängten vorbeiziehen und die toten Augen und die hängende Zunge des Toten ansehen. Kapos und Blockchefs zwangen einen jeden, dem Erhängten gerade ins Gesicht zu blicken.
Nach dem Vorbeizug erhielten wir die Erlaubnis, in den Blocks die Abendsuppe zu löffeln. Ich erinnere mich, daß ich die Suppe an diesem Abend ausgezeichnet fand.
"Everything has already been said, but not yet by everyone." - Karl Valentin

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ClaudiaRothenbach
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Postby ClaudiaRothenbach » 1 decade 7 years ago (Sun Feb 05, 2006 1:12 pm)

Teil 2
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Ich habe in der Folge mehreren Erhängungen beigewohnt. Nie habe ich einen der Verurteilten weinen sehen, denn ihre ausgemergelten Körper hatten seit langem den bitteren Trost der Tränen vergessen.
Mit Ausnahme einer Vollstreckung. Der Oberkapo des 52. Kabelkommandos war ein Holländer: ein über zwei Meter hoher Riese. Siebenhundert Häftlinge arbeiteten unter seinem Befehl und alle liebten ihn wie einen Bruder. Nie hatte einer eine Ohrfeige von seiner Hand bekommen, nie einen Fluch aus seinem Munde gehört. Er hatte im Dienst einen jungen Burschen bei sich, einen Pipel, wie man ihn nannte, ein Kind mit feingezeichneten schönen Gesichtszügen, das nicht in unser Lager paßte.
(In Buna haßte man die Pipel: dort erwiesen sie sich oft grausamer als die Erwachsenen. Im habe einmal einen Dreizehnjährigen seinen Vater schlagen sehen, weil dieser sein Bett nicht gut gemacht hatte. Da der Alte sanft weinte, schrie der Junge: „Wenn du nicht sofort aufhörst zu heulen, bring im dir kein Brot mehr. Verstanden?“ Der kleine Diener des Holländers wurde jedoch von allen geliebt. Er hatte das Gesicht eines unglücklichen Engels.)
Eines Tages flog die Elektrozentrale von Buna in die Luft. An Ort und Stelle gerufen, schloß die Gestapo auf Sabotage. Man fand eine Fährte, die in den Block des holländischen Oberkapos führte. Dort entdeckte man nach einer Durchsuchung eine bedeutende Menge Waffen. Der Oberkapo wurde auf der Stelle festgenommen. Wochenlang wurde er gefoltert. Umsonst. Er gab keinen Namen preis, wurde nach Auschwitz überführt und war fortan verschollen.
Aber sein Pipel blieb im Lager, im Kerker. Gleichfalls gefoltert, blieb auch er stumm. Die SS verurteilte ihn daher zusammen mit zwei anderen Häftlingen, bei denen Waffen gefunden worden waren, zum Tode. Als wir eines Tages von der Arbeit zurückkamen, sahen wir auf dem Appellplatz drei Galgen. Antreten. Ringsum die SS mit drohenden Maschinenpistolen, die übliche Zeremonie. Drei gefesselte Todeskandidaten, darunter der kleine Pipel, der Engel mit den traurigen Augen.
Die SS schien besorgter, beunruhigter als gewöhnlich. Ein Kind vor Tausenden von Zuschauern zu hängen, war keine Kleinigkeit. Der Lagerchef verlas das Urteil. Alle Augen waren auf das Kind gerichtet. Es war aschfahl, aber fast ruhig und biß sich auf die Lippen. Der Schatten des Galgens bedeckte es ganz.
Diesmal weigerte sich der Lagerkapo, als Henker zu dienen. Drei SS-Männer traten an seine Stelle. Die drei Verurteilten stiegen zusammen auf ihre Stühle. Drei Hälse wurden zu gleicher Zeit in die Schlingen eingeführt.
„Es lebe die Freiheit!“ riefen die beiden Erwachsenen. Das Kind schwieg.
„Wo ist Gott, wo ist er?“ fragte jemand hinter mir. Auf ein Zeichen des Lagerchefs kippten die Stühle um. Absolutes Schweigen herrschte im ganzen Lager. Am Horizont ging die Sonne unter.
„Mützen ab!“ brüllte der Lagerchef. Seine Stimme klang heiser. Wir weinten.
„Mützen auf!“
Dann begann der Vorbeimarsch. Die beiden Erwachsenen lebten nicht mehr. Ihre geschwollenen Zungen hingen bläulich heraus. Aber der dritte Strick hing nicht reglos: der leichte Knabe lebte noch. Mehr als eine halbe Stunde hing er so und kämpfte vor unseren Augen zwischen Leben und Sterben, seinen Todeskampf. Und wir mußten ihm ins Gesicht sehen. Er lebte noch, als ich an ihm vorüberschritt. Seine Zunge war noch rot, seine Augen noch nicht erloschen. Hinter mir hörte ich denselben Mann fragen:
„Wo ist Gott?“
Und ich hörte eine Stimme in mir antworten:
„Wo er ist? Dort - dort hängt er, am Galgen...“
An diesem Abend schmeckte die Suppe nach Leichnam. Der Sommer ging zu Ende. Das jüdische Jahr war vorbei.
Am Vorabend von Resch-Haschanah, dem letzten Tage dieses verwünschten Jahres, bebten alle Herzen im Lager vor Spannung. Trotz allem war es ein Tag, der sich von anderen Tagen unterschied, der letzte Tag des Jahres. Das Wort „letzter“ klang seltsam. Wenn er wirklich der letzte wäre?
Man teilte die Abendsuppe aus, eine dicke Suppe, die niemand berührte. Man wollte bis nach dem Gebet warten. Auf dem von elektrisch geladenem Stacheldraht umzäunten Appellplatz hatten sich Tausende von Juden mit verzerrten Gesichtszügen versammelt.
Die Nacht brach herein. Aus allen Blocks strömten die Gefangenen zusammen, plötzlich waren sie fähig, Raum und Zeit zu bezwingen und sie ihrem Willen unterzuordnen. Wer bist Du, mein Gott, dachte ich zornig, verglichen mit dieser schmerzerfüllten Menge, die Dir ihren Glauben, ihren Zorn, ihren Aufruhr zuschreit? Was bedeutet Deine Größe, Herr der Welt, angesichts all dieser Schwäche, angesichts dieses Verfalls und dieser Fäulnis? Warum noch ihre kranken Seelen, ihre siechen Körper heimsuchen?
Zehntausend Männer hatten sich eingefunden, um der Feier beizuwohnen, Blockchefs, Kapos, Todesfunktionäre.
„Lobet den Ewigen...“
Die Stimme des Kantors ließ sich vernehmen. Zunächst glaubte ich, es sei der Wind.
„Gepriesen sei der Name des Ewigen!“
Tausende von Lippen wiederholten die Lobpreisung, Tausende beugten sich wie Bäume im Sturm.
Gepriesen sei der Name des Ewigen!
Warum, warum soll ich ihn preisen? Jede Faser meines Wesens sträubte sich dagegen. Nur weil er Tausende seiner Kinder in Gräben verbrennen ließ? Nur weil er sechs Gaskammern Tag und Nacht, Sabbat und Festtag arbeiten ließ? Nur weil er in seiner Allmacht Auschwitz, Birkenau, Buna und so viele andere Todesfabriken geschaffen hatte? Wie, sollte ich zu ihm sagen: „Gepriesen seist Du, Ewiger, König der Welt, der Du uns unter den Völkern erwählt hast, damit wir Tag und Nacht gefoltert werden, unsere Väter, unsere Mütter, unsere Brüder in den Gaskammern verenden sehen? Gelobt sei Dein heiliger Name, Du, der Du uns auserwählt hast, um auf Deinem Altar geschlachtet zu werden?“
Im hörte, wie die Stimme des Vorbeters unter dem Weinen, Schluchzen und Seufzen der Gläubigen machtvoll und gebrochen zugleich aufstieg:
„Er ist der Herr der ganzen Erde und des Weltalls!“ Alle Augenblicke hielt er inne, als habe er nicht die Kraft, in den Worten ihren Inhalt wiederzufinden. Die Weise erstickte seine Stimme.
Und ich, der Mystiker von einst, dachte:
„Ja, der Mensch ist stärker, größer als Gott. Als Du von Adam und Eva hintergangen wurdest, hast Du sie aus dem Paradies gejagt. Als Noahs Geschlecht Dir mißfiel, hast Du ihm die Sintflut geschickt. Als Sodom keinen Gefallen mehr vor Deinen Augen fand, hast Du Feuer und Schwefel vom Himmel regnen lassen. Aber diese Männer hier, die Du getäuscht hast, die Du hast foltern, erwürgen, vergasen, einäschern lassen, was tun sie? Sie beten Dich an! Sie preisen Deinen Namen!“
„Alle Schöpfung bezeugt die Größe Gottes!“
Einst beherrschte der Neujahrstag mein leben. Ich wußte, daß meine Sünden den Ewigen betrübten, und ich flehte um seine Vergebung. Früher glaubte ich zutiefst, daß von einer einzigen meiner Gebärden, daß von einem einzigen meiner Gebete das Heil der Welt abhing. Heute betete ich nicht mehr. Ich war außerstande, zu seufzen. Ich fühlte mich im Gegenteil stark. Ich war der Ankläger. Und Gott war der Angeklagte. Meine Augen waren sehend geworden, und ich war allein, furchtbar allein auf der Welt, ohne Gott, ohne Menschen. Ohne Liebe und ohne Mitleid. Ich war nur noch Asche, aber ich fühlte mich stärker als jener Allmächtige, mit dem mein leben so lange verknüpft gewesen war. Inmitten dieser Gemeinde war ich ein fremder Beobachter. Die Andacht endete mit dem Kaddisch. Ein jeder sprach Kaddisch für seine Eltern, seine Kinder, seine Brüder und sich selbst.
Eine Weile blieben wir auf dem Appellplatz stehen. Niemand wagte sich diesem Wahn zu entziehen. Es war Schlafenszeit, und die Gefangenen trotteten langsam in ihre Blocks zurück. Ich hörte, wie man einander ein gutes neues Jahr wünschte!
Rasch lief ich hinter meinem Vater her. Gleichzeitig hatte ich Angst, ihm ein glückliches Jahr zu wünschen, an das ich nicht glauben konnte.
Er stand vor dem Block, an die Mauer gelehnt, mit eingefallenen Schultern wie unter einer schweren last. Ich trat auf ihn zu, nahm seine Hand und küßte sie. Eine Träne fiel darauf. Von wem war sie? Von mir? Von ihm? Ich sagte nichts. Er auch nicht. Nie hatten wir uns so gut verstanden.
Der Glockenton stieß uns unbarmherzig in die Wirklichkeit zurück. Es war Schlafenszeit. Wir waren weit fort gewesen. Ich hob die Augen, um das Gesicht meines über mich gebeugten Vaters zu sehen, um ein lächeln zu erhaschen oder irgend etwas, das einem lächeln in seinem ausgemergelten und gealterten Gesicht glich. Ich sah jedoch nichts. Nicht den Schatten eines menschlichen Ausdrucks. Er war geschlagen, vernichtet.
Jom Kippur. Der Tag der Versöhnung, des großen Vergebens.
Mußte man fasten? Die Frage wurde heftig diskutiert. Fasten könnte sicheren, rascheren Tod bedeuten. Hier fastete man das ganze Jahr. Das ganze Jahr war Jom Kippur. Aber andere meinten, man müsse fasten, schon weil Fasten gefährlich war. Es galt, Gott zu zeigen, daß man selbst hier, in dieser verriegelten Hölle, imstande war, ihm Preis zu singen.
Ich fastete nicht. Zunächst, um meinen Vater nicht zu verstimmen, der mir verboten hatte, zu fasten. Dann, weil fasten völlig sinnlos war. Ich nahm Gottes Schweigen nicht mehr hin. Meine Suppe schlürfend, sah ich in dieser Gebärde einen Akt des Aufruhrs und der Auflehnung gegen ihn.
Und ich knabberte meine Brotrinde. Tief im Herzen fühlte ich große Leere. Die SS machte uns zum Neujahr ein schönes Geschenk.
Wir kehrten von der Arbeit wieder. Sobald wir durchs Lagertor marschierten, spürten wir, daß etwas Ungewohntes in der Luft lag. Der Appell dauerte weniger lange als sonst. Die Abendsuppe wurde in Windeseile ausgeschöpft und alsbald angstvoll ausgelöffelt. Ich fand mich nicht mehr im selben Block mit meinem Vater wieder. Vielmehr war ich in ein anderes Kommando versetzt worden, und zwar in ein Gebäude, wo ich zwölf Stunden täglich schwere Steinblöcke zu schleppen hatte. Der Chef meines neuen Blocks war ein deutscher Jude, ein untersetzter Mann mit scharfem Blick. An diesem Abend kündigte er uns an, daß niemand den Block nach der Abendsuppe verlassen dürfe. Bald darauf lief ein schreckliches Wort durch das Lager: die Auswahl.
Wir wußten, was das bedeutete. Ein SS-Mann würde uns untersuchen. Sobald er auf einen Schwachen, einen „Muselmann“, wie wir sagten, stieß, schrieb er seine Nummer auf: reif für die Gaskammer.
Nach der Suppe gab man sich zwischen den Betten ein Stelldichein. Die Veteranen meinten:
„Ihr habt Glück, daß man euch so spät hergebracht hat. Heute ist hier das Paradies, im Vergleich zu dem, was es vor zwei Jahren war. Damals war Buna die wahre Hölle. Es gab kein Wasser, keine Decken, und weniger Suppe und Brot als heute. Nachts schlief man fast nackt, und das bei dreißig Grad unter Null. Jeden Tag sammelte man die Leichen zu Hunderten ein. Die Arbeit war hart. Daraus ist heute ein kleines Paradies geworden. Die Kapos hatten Befehl erhalten, täglich eine bestimmte Anzahl Gefangene zu töten. Jede Woche wurde Auswahl gehalten. Eine unbarmherzige Auswahl... Ja, ihr habt weiß Gott Glück.“
„Genug! Haltet den Mund!“ flehte ich. „Erzählt eure Geschichten morgen früh, oder ein andermal.“
Sie lachten schallend heraus. Sie waren nicht umsonst Veteranen.
„Hast du Angst? Auch wir hatten damals Angst. Wir hatten auch allen Grund dazu -früher.“
Die Greise blieben in ihren Ecken, stumm, reglos, wie gestelltes Wild. Manche beteten.
Noch eine Stunde. In einer Stunde sollten wir das Urteil kennen lernen: den Tod oder den Aufschub. Und mein Vater? Erst jetzt dachte im an ihn. Wie würde er die Auswahl überstehen? Er war so gealtert...
Unser Blockwart war seit 1933 nicht mehr aus den Konzentrationslagern herausgekommen. Er war durch alle Schlachthöfe, durch alle Todesfabriken gegangen. Gegen neun Uhr pflanzte er sich mitten unter uns auf:
„Achtung!“
Sogleich trat Stille ein.
„Hört, was ich euch zu sagen habe. (Zum erstenmal hörte ich seine Stimme zittern.) In wenigen Minuten beginnt die Auslese. Dazu müßt ihr euch vollkommen ausziehen und dann hintereinander an den SS-Ärzten vorbeigehen. Ich hoffe, ihr kommt alle heil durch. Aber ihr müßt selbst eure Chancen vermehren. Bevor ihr ins Nebenzimmer geht, bewegt euch ein bißchen, damit ihr etwas Farbe bekommt. Marschiert nicht langsam, lauft! Lauft, als sei euch der Teufel auf den Fersen! Schaut nicht die SS an. Lauft immer geradeaus!“
Er unterbrach einen Augenblick, dann fügte er hinzu: „Und die Hauptsache: Ihr dürft keine Angst haben!“ Das war ein Rat, den wir alle gerne befolgt hätten. Ich zog mich aus und ließ meine Kleider auf dem Bett. An diesem Abend bestand keine Diebstahlsgefahr. Tibi und Jossi, die gleichfalls neu eingeteilt worden waren, kamen zu mir und sagten:
„ Wir wollen zusammenbleiben. Dann sind wir stärker.“
Jossi murmelte etwas zwischen den Zähnen, vermutlich betete er. Ich hatte nie gewußt, daß Jossi gläubig war. Vielmehr hatte ich immer das Gegenteil angenommen. Tibi hingegen schwieg. Leichenblaß. Alle Häftlinge standen nackt zwischen ihren Betten. So wird man wohl am Jüngsten Gericht dastehen.
„Sie kommen!“
Drei SS-Offiziere umstanden den berühmten Arzt, Dr. Mengele, derjenige, der uns in Birkenau empfangen hatte. Der Blockwart versuchte zu lächeln:
„Fertig?“
Wir waren fertig. Die SS-Ärzte auch. Dr. Mengele hielt eine Liste in der Hand: unsere Nummern - und gab dem Blockwart ein Zeichen: „Sie können anfangen!“ Als sei es ein Spiel.
Zuerst kamen die „Persönlichkeiten“ des Blocks, die Stubenältesten, die Kapos, die Werkmeister, natürlich alle in glänzender körperlicher Verfassung! Daran schlossen sich die einfachen Gefangenen. Dr. Mengele maß sie von Kopf bis Fuß. Hin und wieder schrieb er eine Nummer auf. Nur ein Gedanke erfüllte mich: ihn nicht meine Nummer notieren, nicht meinen linken Arm sehen lassen.
Vor mir waren nur noch Tibi und Jossi. Sie liefen vorbei. Ich konnte gerade noch sehen, daß Mengele ihre Nummer nicht aufgeschrieben hatte. Jemand stieß mich an. Ich war an der Reihe. Ich lief, ohne mich umzublicken. Es schwirrte mir durch den Kopf: Du bist zu mager, zu schwach, du bist zu mager, du bist reif für den Schornstein... Der Lauf schien nicht enden zu wollen, ich glaubte jahrelang zu laufen... Endlich kam ich, völlig ausgepumpt, an. Als ich wieder bei Atem war, fragte ich Jossi und Tibi:
„Hat er mich aufgeschrieben?“
„Nein“, sagte Jossi und fügte lächelnd hinzu: „Er hätte es auch gar nicht gekonnt, weil du zu rasch gelaufen bist.“
Nun lachte auch ich und war so glücklich, daß ich ihn hätte umarmen mögen. In diesem Augenblick spielten die anderen keine Rolle mehr. Man hatte mich nicht notiert.
Diejenigen, deren Nummern aufnotiert worden waren, standen abseits, von der ganzen Welt verlassen. Einige weinten still vor sich hin.
Die SS-Offiziere gingen weg. Der Blockwart erschien, sein Gesicht spiegelte die allgemeine Erschöpfung wider: „Alles ist gut gegangen. Macht euch keine Sorgen. Keinem wird etwas passieren. Keinem...“
Er versuchte noch zu lächeln. Ein armer, ausgehöhlter, ausgemergelter Jude fragte mit zitternder Stimme: „Aber ... aber, Blockältester, man hat mich doch aufgeschrieben !“
Der Blockwart ließ seinen Zorn an ihm aus. Was, man wollte ihm nicht glauben?
„Was soll das heißen? Lüge im vielleicht? Im habe euch ein für allemal gesagt: nichts wird euch geschehen! Niemand geht’s an den Kragen! Ihr aalt euch nur in eurer Verzweiflung, ihr Idioten!“
Die Glocke läutete und zeigte damit an, daß die Auswahl im ganzen Lager beendet sei.
So rasch im konnte, lief im zum Block Nr. 36 und traf meinen Vater, der auf dem Wege zu mir war: „Nun? Bist du drumgekommen?“
„Ja, und du?“
„Ich auch.“
Wie frei wir aufatmeten! Mein Vater hatte ein Geschenk für mich mitgebracht: eine halbe Ration Brot im Austausch gegen ein im Depot gefundenes Stück Gummi, das zur Herstellung einer Sohle dienen konnte.
Es läutete. Schon wieder mußten wir uns trennen und schlafen gehen. Der ganze Tag lief nach der Glocke ab, sie erteilte die Befehle, die ich automatisch ausführte. Ich haßte diese Glocke. Wenn ich mitunter von einer besseren Welt träumte, so brauchte ich mir nur eine Welt ohne Glocke vorzustellen.
Tage vergingen. Wir dachten nicht mehr an die Auswahl. Wie sonst gingen wir zur Arbeit und luden schwere Steine auf Waggons. Die Rationen waren magerer geworden: das war die einzige Veränderung.
Wie alle Tage standen wir eines Morgens vor Sonnenaufgang auf. Wir hatten unseren schwarzen Kaffee und unsere Brotration bekommen und schickten uns an, wie üblich zur Arbeitsstelle zu gehen, als der Blockälteste angelaufen kam:
„Einen Augenblick Ruhe. Ich habe eine Nummernliste zu verlesen. Wer aufgerufen wird, geht heute nicht zur Arbeit und bleibt im Lager.“
Mit schwacher Stimme verlas er etwa zehn Nummern. Wir hatten begriffen: es waren die bei der Auswahl Aufnotierten. Dr. Mengele hatte uns nicht vergessen. Gefolgt von einem Dutzend Gefangener, die sich an seine Jacke klammerten, ging der Blockälteste in seine Kammer:
„Retten Sie uns! Sie haben versprochen... Wir wollen zur Arbeit, wir haben genug Kraft. Wir sind gute Arbeiter. Wir können... wir wollen...“
Er suchte sie zu beruhigen, ihnen wegen ihres Schicksals Trost und Gewißheit zuzusprechen, ihnen zu erklären, daß die Tatsache, daß sie im Lager bleiben sollten, nichts zu sagen und keinesfalls etwas Schlimmes zu bedeuten habe:
„Ich bleib ja auch alle Tage hier...“
Das war freilich ein schwaches Argument. Er merkte es, sprach kein Wort mehr und schloß sich in seine Kammer ein.
Es läutete.
„Antreten!“
Jetzt spielte es keine Rolle mehr, daß die Arbeit hart war. Wichtig war nur, weitab vom Block, von der Todesgrube, fern vom Mittelpunkt der Hölle zu sein. Ich sah meinen Vater auf mich zueilen und bekam es mit der Angst zu tun.
„Was ist los?“
Er war außer Atem und brachte den Mund nicht auf. „Ich auch ... ich auch ... Man hat mir gesagt, ich solle im Lager bleiben.“
Man hatte ihn aufgeschrieben, ohne daß er es gemerkt hatte.
„Was wird geschehen?“ fragte ich geängstigt.
„Es ist noch nicht sicher“, sagte er in dem Bestreben, mich zu beruhigen. „Es gibt noch eine Möglichkeit, zu entwischen. Heute findet eine zweite Auswahl statt ... eine endgültige Auswahl...“
Ich schwieg.
Ich fühlte, wie die Zeit seinen Händen entglitt. Er sprach schnell: er hätte mir soviel zu sagen gehabt. Er verhaspelte sich in seinen Worten, seine Stimme versagte. Er wußte, daß im in wenigen Minuten abmarschieren mußte. Er würde allein, so allein sein...
„Hier, nimm dies Messer“, bat er. „Ich brauche es nicht mehr. Dir kann es noch nützen. Nimm auch diesen Löffel. Verkaufe nichts. Rasch! Los, nimm doch, was ich dir gebe!“
Das Erbe...
„Sprich nicht so, Vater! (Im war nahe daran, in Schluchzen auszubrechen.) Im will nicht, daß du das sagst. Behalte den Löffel und das Messer. Du brauchst sie ebenso notwendig wie im. Heute abend, nach der Arbeit sehen wir uns wieder.“
Er blickte mich mit seinen müden und von Verzweiflung verschleierten Augen an und begann von neuem: „Ich bitte dich... Nimm das Zeug, tu, was im dir sage, mein Sohn. Wir haben keine Zeit... Tu, was dein Vater dir sagt.“
Unser Kapo brüllte den Marschbefehl.
Das Kommando setzte sich in Richtung auf den Lagerausgang in Bewegung. Links, rechts! Im biß mir auf die Lippen. Mein Vater war vor dem Block stehengeblieben und lehnte an der Mauer. Dann lief er los, um uns einzuholen. Vielleicht hatte er vergessen, mir etwas zu sagen... Aber wir marschierten zu schnell... Links, rechts!
Schon waren wir am Tor und wurden im Lärm der Militärmusik abgezählt. Dann waren wir draußen! Den ganzen Tag schlich im wie ein Schlafwandler umher. Tibi und Jossi schenkten mir von Zeit zu Zeit ein brüderliches Wort. Auch der Kapo suchte mich zu beruhigen und teilte mir für heute eine leichtere Arbeit zu. Mir war übel zumute. Dabei war man so gut zu mir, wie zu einem Waisenkind. Ich dachte: selbst jetzt hilft mir mein Vater noch.
Ich wußte selbst nicht, was ich wollte, ob der Tag schneller vergehen solle oder nicht. Ich hatte Angst, abends wieder allein zu sein. Wie gut wäre es gewesen, hier zu sterben!
Schließlich kam der Rückmarsch. Wie lieb wäre es mir gewesen, wenn befohlen worden wäre: Laufen! Wieder der Militärmarsch. Das Tor. Das Lager.
Ich lief zum Block 36.
Geschahen noch Wunder auf der Erde? Er lebte, er war bei der zweiten Auslese durchgeschlüpft. Nochmals hatte er seine Nützlichkeit beweisen können. Ich gab ihm Messer und Löffel zurück.
Akiba Drumer war ein Opfer der Auswahl geworden und hatte uns verlassen. In der letzten Zeit war er mit glasigen Augen umhergewandert und hatte jedem von seiner Schwäche erzählt: „Ich kann nicht mehr... Es ist vorbei mit mir...“ Es war unmöglich, ihn aufzumuntern. Er hörte nicht mehr, was man zu ihm sagte. Er wiederholte nur, daß für ihn alles aus sei, daß er den Kampf nicht mehr durchhalten könne, daß ihm weder die Kraft noch der Glaube geblieben sei. Seine Augen wurden mit einem Mal leer, sie waren nur noch zwei offene Wunden, zwei Brunnen des Entsetzens.
Nicht nur er hatte in den Tagen der Auswahl den Glauben verloren. Ich habe den Rabbiner einer kleinen polnischen Stadt gekannt, einen gebeugten Greis mit stets zitternden Lippen, der die ganze Zeit im Block, auf dem Arbeitsplatz, in Reih und Glied betete. Ganze Seiten aus dem Talmud sagte er auswendig auf, diskutierte mit sich selbst, stellte sich Fragen und beantwortete sie. Eines Tages sagte er zu mir:
„Es ist aus. Gott ist nicht mehr mit uns.“
Und als bereue er, diese Worte trocken und kalt hervorgestoßen zu haben, fügte er mit erloschener Stimme hinzu:
„Ich weiß. Man hat nicht das Recht, so etwas zu sagen, ich weiß es wohl. Der Mensch ist zu klein, zu unbedeutend, um die geheimnisvollen Wege Gottes suchen und verstehen zu können. Aber was kann ich tun? Im bin kein Weiser, kein Gerechter, ich bin kein Heiliger. Ich bin ein einfaches Geschöpf aus Fleisch und Blut. Ich leide Höllenqualen in meiner Seele und in meinem Fleisch. Ich habe auch Augen im Kopf und sehe, was hier geschieht. Wo ist die göttliche Barmherzigkeit? Wo ist Gott? Wie kann im, wie kann man an diesen Gott der Barmherzigkeit glauben?“
Armer Akiba Drumer! Hätte er sich seinen Glauben an Gott bewahren, hätte er in diesem Leidensweg eine Prüfung Gottes sehen können, er wäre nicht ein Opfer der Auslese geworden. Sobald er aber den ersten Riß in seinem Glauben spürte, verlor er jeden Grund zum Weiterkämpfen, und der Todeskampf begann.
Als die Auswahl begann, war er von vorneherein verurteilt, weil er seinen Hals dem Henker hinstreckte. Er bat uns nur:
„In drei Tagen bin ich nicht mehr... Sagt Kaddisch für mich.“
Wir versprachen es: Sollte in drei Tagen der Schornstein rauchen, würden wir an ihn denken. Wir würden zehn der Unsrigen zusammenrufen und eine besondere Andacht abhalten. Alle seine Freunde würden Kaddisch sagen.
Dann machte er sich mit fast sicherem Schritt zum Lazarett auf den Weg, ohne sich einmal umzublicken. Dort wartete eine Ambulanz, um ihn nach Birkenau zu bringen.
Das waren schreckliche Tage. Wir bekamen mehr Hiebe als Essen und die Arbeit gab uns fast den Rest. Drei Tage nach seinem Fortgang vergaßen wir Kaddisch zu sagen.
Der Winter war gekommen. Die Tage wurden kürzer und die Nächte fast unerträglich. In den ersten Morgenstunden peitschte uns der eisige Wind. Jetzt bekamen wir Winterkleidung: gestreifte, etwas dickere Hemden, was den Veteranen neue Gelegenheit zum Spotten gab: „Jetzt werdet ihr das Lager erst richtig kennenlernen.“
Wie üblich zogen wir durchgefroren zur Arbeit aus. Die Steine waren so kalt, daß sie an den Händen zu kleben schienen, sobald man sie berührte. Aber man gewöhnt sich an alles.
An Weihnachten und Neujahr wurde nicht gearbeitet. Wir bekamen eine weniger klare Suppe.
Gegen Mitte Januar bekam ich Frostbeulen am Fuß. Da ich nicht mehr auftreten konnte, ging ich zur Sprechstunde. Der Arzt, ein großer jüdischer Arzt, Gefangener wie wir, meinte eindeutig: „Wir müssen operieren! Wenn wir warten, werden wir die Zehen, vielleicht sogar das Bein abnehmen müssen.“
Das fehlte noch! Es blieb mir jedoch keine andere Wahl. Der Arzt hatte beschlossen zu schneiden, es gab kein Wort mehr darüber zu verlieren. Im war sogar froh, daß er die Entscheidung fällte.
Man legte mich in ein Bett mit weißen Laken. Ich hatte vergessen, daß man normalerweise in weißen Laken schläft.
Die Lazarettbehandlung war gar nicht so schlecht: man hatte Anrecht auf Weißbrot und eine dickere Suppe. Auch kein Läuten, kein Antreten, keine Arbeit. Von Zeit zu Zeit konnte ich meinem Vater ein Stück Brot zuschmuggeln.
Neben mir lag ein an Ruhr erkrankter ungarischer Jude. Er war nur noch Haut und Knochen, und seine Augen waren erloschen. Ich hörte nur noch seine Stimme, seine einzige Lebensäußerung. Woher nahm er die Kraft, zu sprechen?
„Freu dich nicht zu früh, Kleiner. Auch hier gibt es die Auswahl! Und zwar noch häufiger als draußen. Deutschland braucht keine kranken Juden, Deutschland braucht mich nicht. Nach dem nächsten Transport hast du einen neuen Nachbarn. Drum hör mich an und befolge meinen Rat: verlasse das Lazarett nach der Auswahl!“ Diese Worte, die aus der Erde kamen, aus einer Gestalt, die kein Gesicht mehr hatte, jagten mir einen furchtbaren Schrecken ein. Natürlich war das Lazarett winzig, und wenn in diesen Tagen neue Kranke kamen, mußte man Platz machen.
Vielleicht wollte mein Nachbar ohne Gesicht, der vielleicht fürchtete, unter den ersten Opfern zu sein, mich nur vertreiben und mein Bett frei sehen, damit er selbst eine Chance bekäme, zu überleben. Vielleicht wollte er mich nur erschrecken. Wenn er aber wahr gesprochen hatte? Ich beschloß, die Ereignisse abzuwarten. Der Arzt kündigte mir an, daß ich am darauffolgenden Tag operiert werden würde.
„Hab’ keine Angst“, fügte er hinzu, „alles wird gutgehen.“
Gegen zehn Uhr morgens führte man mich ins Operationszimmer. „Mein“ Arzt war anwesend, das tröstete mich. Ich fühlte, daß mir in seiner Gegenwart nichts Böses zustoßen konnte. Jedes seiner Worte war Balsam und jeder seiner Blicke traf mich wie ein Hoffnungsschimmer.
„Es wird etwas weh tun“, sagte er, „aber das geht vorüber. Beiß auf die Zähne!“ Die Operation dauerte eine Stunde. Man hatte mich nicht betäubt. Ich ließ keinen Blick von meinem Arzt. Dann verließen mich die Sinne.
Als ich wieder zu mir kam und die Augen öffnete, sah ich zuerst nur eine riesige weiße Fläche, meine Laken, und dann die Augen des Arztes, der sich über mich beugte:
„Alles ist gut verlaufen. Du bist tapfer, mein Kleiner. Jetzt bleibst du zwei Wochen liegen und ruhst dich aus, und dann ist alles vorbei. Du bekommst gut zu essen, du kannst deinen Körper und deine Nerven entspannen...“
Ich folgte nur den Bewegungen seiner Lippen, kaum verstand ich, was er sagte, aber das Summen seiner Stimme tat mir wohl. Plötzlich bedeckte kalter Schweiß meine Stirn: ich fühlte mein Bein nicht mehr! Hatte man es amputiert?
„Herr Doktor“, stammelte ich, „Herr Doktor!“
„Was ist denn, Kleiner?“
Ich hatte nicht den Mut, ihm die Frage zu stellen, die mir auf den Lippen brannte.
„Ich habe Durst...“
Man brachte mir Wasser. Er lächelte und schickte sich an, seine anderen Patienten zu betreuen.
„Herr Doktor?“
„Was ist?“
„Werde ich mein Bein wieder benützen können?“
Er lächelte nicht mehr. Angst befiel mich. Er sagte:
„Kleiner, hast du Vertrauen zu mir?“
„Großes, Herr Doktor.“
„Na schön. Dann hör zu: in vierzehn Tagen wirst du vollkommen hergestellt sein und wirst gehen können wie die anderen. Deine Fußsohle war völlig vereitert. Wir mußten nur diesen Beutel reinigen. Dein Bein ist nicht amputiert worden. Du wirst sehen, in vierzehn Tagen läufst du quietschfidel herum.“
Ich brauchte also nur vierzehn Tage zu warten. Aber schon zwei Tage nach meiner Operation lief das Gerücht durchs Lager, daß die Front plötzlich nahegerückt sei. Die Rote Armee stoße auf Buna vor, hieß es, es sei nur noch eine Frage von Stunden.
Wir waren an diese Art von Gerüchten bereits gewöhnt. Es war nicht das erste Mal, daß ein falscher Prophet uns den Frieden auf der Welt, Verhandlungen mit dem Roten Kreuz wegen unserer Befreiung und andere Hirngespinste versprochen hatte... Plötzlich glaubten wir daran, es war wie eine Morphiumspritze. Diesmal klangen die Prophezeiungen jedoch handgreiflicher. In den vergangenen Nächten hatten wir in der Feme Kanonendonner gehört.
Aber da sagte mein gesichtsloser Nachbar:
„Gib dich keinen Illusionen hin. Hitler hat es klar und deutlich ausgesprochen, daß er sämtliche Juden vernichtet haben wird, bevor es dreizehn schlägt.“
„Was haben Sie davon?“ stieß im hervor. „Sollen wir Hitler als Propheten ansehen?“
Seine erloschenen Augen blickten mich starr an. Schließlim sagte er tonlos:
„Ich habe mehr Vertrauen in Hitler als in irgend jemand anderen. Hitler ist der einzige, der alle seine dem jüdischen Volke gemachten Versprechungen samt und sonders gehalten hat.“
Um vier Uhr nachmittags desselben Tages rief die Uhr wie üblich alle Blockältesten zum Appell. Niedergeschlagen kehrten sie zurück und sagten nur ein Wort: Evakuierung. Das Lager sollte aufgelöst, wir sollten rückwärts verlagert werden. Aber wohin? Irgendwohin tief nach Deutschland hinein, in andere Lager: an denen fehlte es nicht.
„Wann?“
„Morgen abend.“
„Vielleicht kommen die Russen noch vorher...“
„ Vielleicht.“
Wir wußten wohl, daß das nicht der Fall sein würde.

Das Lager summte wie ein Bienenkorb. Man lief, rief und fragte. In allen Blocks wurden Marschvorbereitungen getroffen. Ich hatte meinen kranken Fuß vergessen. Ein Arzt betrat das Krankenzimmer und verkündete:
„Morgen unmittelbar nach Einbruch der Dunkelheit marschiert das Lager ab. Ein Block nach dem anderen. Die Kranken können im Lazarett bleiben und werden nicht evakuiert.“
Diese Nachricht gab mir zu denken. Sollte die SS sich damit einverstanden erklären, daß einige hundert Häftlinge sich in den Lazarettblocks bereitmachten und seelenruhig die Ankunft ihrer Befreier erwarteten? Würden sie irgendeinem Juden erlauben, die dreizehnte Stunde abzuwarten? Sicherlich nicht.
„Man wird alle Kranken schonungslos erledigen“, sagte der Gesichtslose, „und sie mit dem letzten Schub in die Gaskammer spedieren.“
„Sicherlich ist das Lager unterminiert“, warf ein anderer ein. „Unmittelbar nach der Evakuierung wird alles in die Luft fliegen.“
Ich selbst dachte nicht an den Tod, wollte mich jedoch nicht von meinem Vater trennen lassen. Wir hatten schon soviel gemeinsam gelitten und ertragen: es war nicht mehr der Augenblick, uns trennen zu lassen. Ich lief hinaus, um ihn zu suchen. Der Schnee lag dicht, die Fenster der Blocks waren bereift. Einen Stiefel in der Hand, denn ich konnte den rechten Stiefel nicht anziehen, lief ich und fühlte weder Schmerz noch Kälte.
„Was geschieht nun?“
Mein Vater antwortete nicht.
„Was wird geschehen, Vater?“
Er war in Gedanken versunken. Die Wahl lag in unseren Händen. Zum erstenmal konnten wir unser Los selbst entscheiden. Wir konnten alle beide im Lazarett bleiben, wo ich ihn dank meines Arztes als Kranken oder Krankenwärter einführen konnte. Wir konnten auch mit den anderen gehen.
Ich war entschlossen, meinen Vater auf jeden Fall zu begleiten.
„Was geschieht nun, Vater?“
Er schwieg.
„Wir wollen uns mit den anderen evakuieren lassen“, sagte ich.
Er antwortete nicht und blickte nur auf meinen Fuß.
„Glaubst du, daß du marschieren kannst?“
„Ich glaub schon.“
„Hoffentlich bereuen wir es nicht, Elieser.“

Nach dem Kriege erfuhr ich das Schicksal der im Lazarett Verbliebenen. Sie wurden zwei Tage nach der Evakuierung schlicht und einfach von den Russen befreit.
Ich kehrte nicht ins Lazarett zurück, sondern ging in meinen Block. Meine Wunde hatte sich geöffnet, blutete und färbte den Schnee rot.
Der Blockälteste verteilte doppelte Rationen von Brot und Margarine für den Marsch. Kleider und Hemden konnte man sich im Depot in beliebigen Mengen holen. Es war kalt. Wir legten uns ins Bett.
Die letzte Nacht in Buna. Wieder einmal die letzte Nacht. Die letzte Nacht zu Hause, die letzte Nacht im Ghetto, die letzte Nacht im Viehwagen und nun die letzte Nacht in Buna. Wie lange würde unser Leben sich noch von einer „letzten Nacht“ zur anderen schleppen? Ich tat kein Auge zu. Hinter dem bereiften Fenster blitzte roter Lichtschein auf. Kanonendonner zerriß die stille Nacht. Wie nah die Russen schon waren! Zwischen ihnen und uns - eine Nacht, eine letzte Nacht. Man flüsterte von einem Bett zum anderen: nur ein wenig Glück, und die Russen sind vor der Evakuierung hier! Noch lebte die Hoffnung.
Einer rief:
„Versucht zu schlafen. Sammelt Kraft für den Marsch.“
Das erinnerte mich an die letzten Ratschläge meiner Mutter im Ghetto.
Aber im konnte nicht einschlafen. Mein Fuß brannte wie Feuer.
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Eli Wiesel, Die Nacht zu begraben, Elischa, ISB N 3-548-20823-1, S. 44-115
"Everything has already been said, but not yet by everyone." - Karl Valentin


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